Falsch
Frühjahr 1943 von Jenbach und Regensburg aus nach Haiming gelangt. Trotz ihrer Jugend war jeder von ihnen nach einer Lehre bei Messerschmidt und Heinkel Fachmann auf seinem Gebiet und deshalb vom Kriegsdienst befreit. Angesichts der gezielten Luftangriffe auf kriegswichtige Betriebe, den darauffolgenden Auslagerungen in unterirdische Fabriken und des ständig wachsenden Personalmangels waren sie die Karriereleiter rasend schnell emporgestiegen.
Womit Franz, Ernst, Willi und Paul im Stillen niemals gerechnet hatten, wurde in Tirol rasch Wirklichkeit: Der Krieg und die Grausamkeit der Vernichtungslager holten sie ein. Mit einem herablassenden Grinsen und der Bemerkung »Das ist eine hoch geheimes Unternehmen der Wehrmacht, und so soll es auch bleiben« hatte der militärische Leiter des Projekts sie allen Protesten zum Trotz in Uniformen gesteckt und vereidigt. Dann hatte er nicht nur dafür gesorgt, dass sie bei einigen der kollektiven Bestrafungsaktionen anwesend waren, sondern auch beim Einbetonieren der Leichen halfen. Als Willi sich weigern wollte, meinte der Leiter der Bauarbeiten kurz angebunden: »Dann lasse ich Sie wegen Sabotage an Ort und Stelle erschießen. Dieses ist ein kriegwichtiges Vorhaben, Sie Weichling!«
Von da an hatten die Schikanen nicht mehr aufgehört.
Als man Franz und Ernst zu Sprengungen im Berg abkommandierte, verschlimmerte sich der Alptraum noch. Paul hatte nicht glauben können, was sie berichteten. Alles schien wie ein endloser, immer wiederkehrender Horror.
»Es übersteigt alle menschlichen Vorstellungen«, murmelte Paul niedergeschlagen. »Dafür werden wir in der Schattenwelt schmoren bis zum Jüngsten Tag, fern von Gott und seiner Güte.«
»Gott hat uns längst vergessen«, seufzte Ernst. »Das würde ich auch an seiner Stelle. Wie spät ist es überhaupt?«
»Kurz nach vier«, gab Willi gähnend zurück. »Wir müssen sowieso bald raus, die Wasserzuflüsse kontrollieren. Zuerst zum Piburger See, dann zu den Sperren oben im Gebirge. Und schlafen kann ich ohnehin nicht mehr.«
»Lasst uns verschwinden, heute noch«, bat Franz leise. »Oder gebt mir meine Pistole. Wir sind eine verlorene Generation, wertloses Strandgut der Geschichte. Mir ekelt vor mir selbst.«
»Reiß dich zusammen«, herrschte ihn Paul an und steckte die P8 in seinen Hosenbund. »Niemand ist wertlos. Wenn wir das hier überleben, dann hat die Vorsehung noch etwas mit uns vor. Lassen wir also den alten Herren da oben entscheiden, der uns vielleicht doch noch ab und zu im Auge hat. Und jetzt zieh dich an, auch wenn es nur die verhasste Uniform ist, sonst frierst du dir in den Bergen den Arsch ab.«
Hotel Beau Rivage,
Genf/Schweiz
»Ich wette mit euch, dass dieser Takanashi vor dem Hotel auf uns wartet, bis wir aufbrechen.« Alfredo setzte seine Sonnenbrille auf und blickte sich besorgt um. »Er ahnt irgendetwas, und zwar nicht nur, weil du etwas von einem Rätsel oder einem Puzzle gestottert hast.« Er funkelte Georg an. »Er weiß viel mehr von diesem Claessen, als er uns verraten hat. Jetzt wird er wie eine Klette an uns klebenbleiben und versuchen, uns und den Ring nicht mehr aus den Augen zu verlieren.«
Finch nickte nachdenklich und leerte seine Kaffeetasse. »Aber der Japaner war es nicht, der uns in Kolumbien und Brasilien auf den Fersen war, der den Angriff auf Böttcher unternahm oder das Flugzeug sprengte. Also gibt es noch jemanden, eine zweite Seite, die am Geheimnis der alten Männer interessiert ist. Langsam frage ich mich, wie viele da draußen auf uns warten …«
»Vincente könnte eine schnelle Runde um den Block drehen und dabei die Augen offenhalten«, schlug Fiona vor. »Was haltet ihr davon?«
»Gute Idee«, gab Georg zu, »einen Versuch wäre es wert. Vielleicht kann er jemanden entdecken. Ich stolpere nicht gern in vorbereitete Fallen. Außerdem können wir besser einen Plan entwickeln, wenn wir wissen, wie viele uns auf den Fersen sind.«
Vincente nickte erfreut und erhob sich sofort.
»Wie lange brauchst du?«, fragte ihn Finch.
Der Junge wiegte den Kopf und zeigte fünfzehn Minuten, dann sah er den Piloten fragend an.
»Ist okay, lauf los«, gab Finch zurück. »Wir packen in der Zwischenzeit, zahlen und warten auf dich in der Lobby.«
Als Vincente aus der Drehtür kam und die drei Stufen zur Straße hinunterlief, atmete er auf und sog die klare Luft gierig ein. Der lange Flug saß ihm in den Knochen, und er genoss die Bewegung, die er bereits vermisst hatte.
Nach
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