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Falsch

Falsch

Titel: Falsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Schilddorfer
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geformte Anker, Karten von Inseln und Filmplakate mit längst vergessenen Schauspielern.
    In der Mitte des Raumes, über einem Seil, das von einer Wand zur anderen gespannt war, hing eine riesige schwarze Flagge. Darauf war ein weißes Skelett mit Sanduhr und einem Speer in der knöchrigen Hand zu sehen. Rechts daneben prangte ein rotes, blutendes Herz.
    »Die Flagge von Edward Teach, genannt Blackbeard.« Botero war neben Vincente getreten, einen Becher mit duftendem Kaffee in der Hand, den er ihm entgegenstreckte. »Er war der bekannteste englische Pirat in der Karibik, zwischen St. Lucia und der amerikanischen Küste. Die Flagge, vor der du stehst, war Programm: Das Skelett symbolisierte den Tod, den er brachte, die Sanduhr war das Zeichen für die Endlichkeit des Lebens. Der Speer wiederum stand für einen gewaltsamen, das blutende Herz für einen langsamen und grausamen Tod.«
    Der alte Mann wies auf ein Porträt an der Wand, das einen etwas ironisch blickenden Freibeuter mittleren Alters zeigte. »Augenzeugen beschrieben Teach als einen großen, schlanken Mann, der einen außergewöhnlich langen schwarzen Bart trug. Daher kam sein Piratenname Blackbeard. Er steckte sich Lunten an seinen Hut, die er anzündete, um seine Feinde zu erschrecken.«
    Botero kicherte, nippte an seinem Kaffee, ohne die Flagge aus den Augen zu lassen, und erzählte weiter. »Teach wurde nur achtunddreißig Jahre alt, aber sein Ruf überlebte ihn bis heute. Er starb bei einem Gefecht auf seinem Schiff, der Queen Anne’s Revenge, von fünf Kugeln getroffen. Man enthauptete den Toten, warf seinen Körper in das Meer vor der Ocraroke-Insel, am südlichen Ende der Küste von North Carolina, und hängte seinen Kopf an den Bugspriet des Siegerschiffes. Das war am 22. November 1718. Der gefürchtete Blackbeard war endlich tot, aber seine Legende war geboren, und sie lebt bis heute fort.«
    Vincente reichte seinen leeren Becher zurück und sah dabei Botero zum ersten Mal genauer an. Der alte Mann war etwa so groß wie er und schien aus einem der Bilder an der Wand gestiegen zu sein, direkt aus den Tiefen der Freibeuter-Vergangenheit in das Medellín von heute. Die wirren Haare, die abgewetzte und an unzähligen Stellen geflickte Bekleidung, der Papagei auf seiner Schulter, der Säbel und die riesige Pistole in seinem Gürtel, die Stulpenstiefel, aus denen ein Messergriff ragte, beunruhigten Vincente.
    Ein gefährlicher alter Mann oder einfach ein Irrer, der seinen Wahn lebte?
    Vincente war sich nicht sicher, was er von dem erstaunlich durchtrainiert wirkenden Bewohner dieses Museums halten sollte, dessen Gesicht zum größten Teil hinter einem ungepflegt wirkenden Bart verborgen blieb. Die blaugrauen Augen, die ihn nun ihrerseits musterten, waren klar und blickten etwas misstrauisch in die Welt und auf Vincente im Speziellen.
    »Nun zu dir, junger Mann. Was bringt dich an Deck dieser Brigg?« Mit diesen Worten hielt Botero Vincente ein Blatt Papier und einen Stift hin.
    Während der Junge schrieb, fütterte der alte Mann den Papagei auf seiner Schulter mit Körnern, die er aus seiner Hosentasche fischte. Dabei betrachtete er den stummen, abgezehrten Vincente in seinen schlotternden Klamotten nachdenklich.
    »Du sollst hier keinen Roman schreiben, Buccaneer«, sagte er schließlich und zog Vincente ungeduldig das Papier unter dem Stift weg.
    »Hängt ihn!«, kreischte der Papagei, flog auf und landete auf dem Seil, das die Flagge von Blackbeard trug. Das Skelett schien zum Leben zu erwachen und schüttelte die Sanduhr.
    »Kommt Zeit, kommt eine Schlinge«, murmelte Botero.
    Dann begann er zu lesen.

Cabañas Gisela,
Tintipan, Islas de San Bernardo/Kolumbien
    »Er ist Ihnen also entwischt.«
    Der Mann wirkte im grauen Anzug mit Krawatte völlig deplatziert, aber es war ihm offenbar egal. Hinter der elegant arrangierten Sitzgruppe unter Palmen lag das azurblaue Karibische Meer, davor ein menschenleerer Sandstrand, von dem ein langer Steg aus weiß gestrichenen Holzbohlen weit in die See hinaus führte. Ein riesiges dunkelblaues Schnellboot, eine Sunseeker Predator mit 8000 PS , lag am äußersten Ende des Stegs vertäut.
    Es war eine Bilderbuch-Idylle.
    Doch der Schein trog.
    »Er ist uns nicht entwischt, er hat sich selbst umgebracht.«
    Die Stimme seines Gegenübers war ruhig und gefasst. Der hünenhafte Mann auf der anderen Seite des großen runden Tisches trug ein T-Shirt, Shorts und Dockers. Seine eisgrauen Augen blickten selbstsicher und

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