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Falsch

Falsch

Titel: Falsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Schilddorfer
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dem vollen weißen Haar und dem schmalen Gesicht, durch das sich Fältchen wie das Liniennetz der öffentlichen Verkehrsmittel einer Millionen-Metropole zogen, nickte resignierend. »Dann wird er es so schaffen müssen«, meinte er schließlich mit besorgtem Gesichtsausdruck, während er die Latex-Handschuhe abstreifte und in den Abfalleimer warf.
    Vincente sah sich kurz um, entdeckte einen Block auf dem Schreibtisch der Praxis und schrieb kurz ein paar Worte darauf. Dann hielt er ihn dem Arzt hin.
    »Ob ich ihn hier behalten kann?«, lächelte der Mediziner, den Vincente aus dem Bett geklingelt hatte, einen bewusstlosen Alfredo über seiner Schulter und einen Riesenschreck in den Knochen. »Aber ganz sicher doch, junger Freund. In dem Zustand geht er nirgends hin, zumindest nicht für die nächsten zwei Tage.«
    Vincente nickte befriedigt. Dann griff er in die Tasche und legte wie selbstverständlich ein Bündel Real auf den Tisch. Der Arzt sah erst den Jungen an, dann das Bündel Banknoten. Schließlich nahm er das Geld und wog es in seiner Hand, wie ein Säckchen Gold.
    »Dafür könntest du ihn in einer Privatklinik unterbringen«, meinte der Mediziner kopfschüttelnd. »Viel zu viel.« Er zog ein paar Scheine aus dem Bündel und reichte das restliche Geld Vincente. »In drei Tagen sehen wir uns wieder. Dann sollte es deinem Freund bereits bessergehen. Bis dahin ist er in guten Händen, mach dir keine Sorgen. Und wenn ich eine passende Blutkonserve auftreiben kann, ohne zu viele Fragen beantworten zu müssen, fülle ich sein System auf.«
    Vincente lächelte dankbar und schüttelte dem Arzt die Hand. Dann schlüpfte er gewandt durch die halboffene Tür der Praxis, stürmte die Treppen hinunter auf die Straße, wo er kurz stehen blieb und sich vorsichtig umblickte. Niemand zu sehen.
    Zufrieden lief er los. Es dauerte keine fünfzehn Schritte, da hatte er seinen Rhythmus gefunden. Die Sonne war bereits aufgegangen, Medellín erlebte das übliche morgendliche Verkehrschaos. Vincente schlängelte sich zwischen den hupenden Autos durch, nahm Abkürzungen und durchquerte Parks, wo die Sprinkleranlagen Regenbogen in die klare Luft über dem Rasen zeichneten. Jetzt, da er Alfredo gut versorgt wusste, war es an der Zeit, sich um das geheimnisvolle Stück Papier und seinen wahren Empfänger zu kümmern.
    Das Haus, in dem Alfredo und Vincente wohnten, war eines der wenigen alten Gebäude im Viertel. Der dreistöckige Bau mit der brüchigen Fassade erzählte von einem vergangenen Glanz Medellíns. Weit weg von der bejubelten modernen Architektur im Stadtzentrum, dämmerte das alte Haus seinem Abriss entgegen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Spekulanten auch die Grundstücke in La Cruz entdecken würden. Dann begann der stets gleiche Kreislauf von neuem: Die Bewohner, viele Arbeitslose und Kleinkriminelle, würden ausgesiedelt werden, weiterziehen in noch entferntere der 249 Bezirke der Stadt, während die Bagger Platz für noch mehr Stahl und Chrom schaffen würden.
    Aber noch stand das Gebäude, trotz des Verfalls, und hatte sich einen Rest von seiner majestätischen Ausstrahlung bewahrt. Ende des 19. Jahrhunderts von einem der großen Kaffee-Exporteure des Landes als Niederlassung in Medellín erbaut, spiegelte der Ziegelbau mit seinen dicken Mauern die Geschichte des Landes wider. Der Bürgerkrieg 1948 hatte Dutzende Einschusslöcher hinterlassen, die nie repariert worden waren. Der Verputz, ehemals ein zartes Gelb, war in der feuchten Luft großflächig abgeblättert, die Reste hatten eine schmutziggraue Farbe angenommen. Die Puttenköpfe über den Fenstern waren nach und nach den nächtlichen Zielübungen jugendlicher Schießwütiger zum Opfer gefallen. Graffiti aus gestohlenen Spraydosen bedeckten das Erdgeschoss wie ein Dschungel mehrfarbiger Schlingpflanzen.
    Als Vincente die wenigen Stufen zum Eingang hochlief, musste er spielenden Kindern und einer jungen Frau ausweichen, die auf der Treppe saß und ihrer Tochter im Säuglingsalter die Brust gab. Sie blickte auf, als sie ihn hörte, und lächelte den Jungen an. » Hola Vincente, was kochst du heute Feines?«, fragte sie schelmisch. »Lädst du mich auch zum Essen ein?«
    Da Vincente wusste, dass die junge Mutter einige Zeichen der Gebärdensprache verstand, machte er ihr rasch klar, dass heute gar nichts auf dem Speisezettel stand. Dann schloss er noch eine Frage an, die von der Frau mit einem Stirnrunzeln quittiert wurde.
    »Wer hier am längsten

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