Falsche Brüder
an
vernünftige Kost gewöhnt hatte man sie bereits vorher.
In einer an das Schulgelände grenzenden Halle mit einer großen
Anzahl von Räumen und Boxen wurden die Wiedererweckten
von vielen Betreuern zunächst in kleinen Gruppen über die Lage
aufgeklärt. Leider konnte man die wenigsten mit ihren
Angehörigen zusammenführen, da in dem Durcheinander der
ersten Tage des Überfalls Evakuierungspläne nicht bestanden
hatten. So mussten die meisten einen Suchdienst in Anspruch
nehmen, ehe sie samt und sonders für sechs Wochen in südliche
Kur- und Ferienorte vermittelt wurden. Aber etliche wollten nach
dem obligatorischen fünftägigen Klinikaufenthalt ihre
Angehörigen selbst suchen, in den Arbeitsprozess eingereiht
werden oder kämpfen.
Ich ging fast den ganzen ersten Tag lang die Reihen ab, die
Räume und die Boxen. Ich fand Dagmar nicht. Ich fiel den
Registraturen auf die Nerven, bis sie mir endlich gestatteten, die
Gesamtdatei seit Beginn der Aktion einzusehen. Dort wurden die
Personalien nach der Genesung eingetragen, also von den
Gesunden selbst angegeben. Und jeder konnte sich bisher
dieser Daten sofort wieder erinnern.
Dagmar befand sich nicht unter ihnen.
Niedergeschlagen und enttäuscht verließ ich am zweiten Tag
Ivalo, um zu meiner Einheit zurückzukehren. Ich zergrübelte
mein Hirn mit unerfreulichen Gedanken, aber stets wies ich
das Schlimmste von mir. Ich dachte nach, wo uns Programmierte
oder auch andere Gefangene entgangen sein konnten. In der
sechsundzwanzigsten Kuppel! Dort befanden sich mit Sicherheit
noch Menschen. Außerdem hatten wir bei der
Vernichtungsaktion diese sieben Kuppeln ausgelassen, in denen
wir bei den vorausgegangenen Beobachtungen keine Menschen
entdeckt hatten. Hier konnten wir uns geirrt haben. Das Gleiche
traf auf den Schutzraum um die Raumflotte zu. Oder man hatte
Dagmar nicht programmiert, es war ihr gelungen, zu fliehen,
und sie verbarg sich irgendwo in den endlosen Wäldern.
Hunderte von Menschen hatten wir bereits getroffen, die den
Besatzern entgangen waren.
Bei meiner Rückkunft erwartete mich eine Überraschung.
Lang hatte hinterlassen, ich solle mich sofort melden.
Er verabschiedete einen Offizier, der sich bei ihm befand, als
ich kam, und wandte sich mir zu. „Du gehst morgen in die
Kuppel, hier das Vorbereitungsmaterial…“ Er schob mir eine
dünne Mappe zu, die ich mit gemischten Gefühlen aufnahm.
Aber sagte er nicht „in die Kuppel“? Hatte man einen neuen
Tunnel gegraben? Anders ging es wohl nicht. „Wie geschieht
das?“, fragte ich und drehte die Mappe unschlüssig in den
Händen.
Lang war etwas anderes eingefallen. „Erfolg?“, fragte er und sah
mich von unten her an. Er stand über seinen Tisch gebückt und
unterbrach das Sortieren.
Ich war ihm für diese Frage dankbar, verriet sie doch
Anteilnahme. „Nein“, antwortete ich und versuchte meiner
Stimme Festigkeit zu verleihen.
„Na – es ist nicht aller Tage Abend. Scheißkrieg.“ Er räusperte
sich. „Sie haben das Gespräch verlangt. Fahr an die Kuppel, da
kannst du dich selbst überzeugen. Du übernimmst die Leitung,
suche dir noch zwei Mann aus. In der Mappe findest du die
Instruktion. Siehst du, die Zähne zeigen muss man ihnen, dann
sind sie bereit zum Verhandeln. Solange solche den anderen
schwach sehen, sind sie nicht im Geringsten gehemmt, ihren
Vorteil mit allen Mitteln durchzusetzen. Das sind zwar keine
Menschen, aber diese Erfahrung aus unserer Geschichte kannst
du getrost auf sie übertragen.“
„Und was erwarten wir?“, fragte ich.
„Wir äußern uns nicht, hören sie nur an, das steht alles da
drin.“ Er zeigte auf die Mappe, die ich noch immer in den
Händen drehte.
Diese Entwicklung war erfreulich. Es wäre mir aber lieber
gewesen, wenn nicht ich mit dieser Aufgabe betraut worden
wäre.
Das letzte Vorkommnis hatte mir deutlich genug bewiesen, dass
diese Barbaren vom Umgang mit Parlamentären eine eigene
Auffassung hatten. Die putzten uns doch glatt hinweg, wenn
unsere Reaktion nicht dem entsprach, was sie sich vorstellten.
Stolz aber erfüllte mich auch. Schließlich bedeutete diese
Forderung des Gegners eine Wende in den Beziehungen auch zu
den Anführern und damit zu allen Vertretern dieser Wesenheit.
Ein geschichtliches Ereignis sozusagen, von höchster Tragweite.
Und ich unmittelbar beteiligt!
Dieser Gedanke gab mir den Mut. „Gut“, sagte ich.
Lang sah erstaunt auf, äußerte sich jedoch nicht. Dass ich
einwilligen würde, schien
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