Falsche Brüder
Geraune herrschte Stille. Zu sehr standen
alle unter dem Eindruck des Schrecklichen und der Angst vor
dem Kommenden.
Wir blieben in unserem Winkel. Ich fror, drückte mich an
Dagmar, konnte nicht verhindern, dass meine Zähne aufeinander
schlugen.
Es verrannen zwei unendlich lang erscheinende Stunden.
Plötzlich rollte das Tor ein Stück auseinander. Von außen
wurde in die Öffnung ein Kasten geschoben, vergleichbar mit
einer kompakten Telefonzelle, der Vorder- und Rückwand
fehlten. Durch sie hindurch sah man draußen dämmrigen
Himmel mit fahlem Abendleuchten.
Und plötzlich hallte eine Computerstimme: „Gehen hinaus,
Menschen.“
Fast gleichzeitig kam Bewegung in die Gruppe. Sie wurde sacht
zum Ausgang hin geschoben, ohne dass ein Gedränge entstand.
Einer nach dem anderen stieg in die Zelle, verharrte dort wenige
Augenblicke und trat dann ins Freie.
Nach dem Letzten schlossen sich die beiden Kugeln an, die den
Ausmarsch flankierend beaufsichtigt hatten. Den
Durchgang
benutzten sie nicht. Das Häuschen wurde entfernt, das Tor blieb
geöffnet.
Ruhe trat ein.
Nach einer Weile flüsterte ich: „Ich sehe nach…“
„Warte noch, bis es dunkel ist“, bat Dagmar.
Eine Zeit lang schwiegen wir.
„Wir müssen wissen, wie es draußen aussieht.“
„Ich habe Angst, Igor!“
Ich strich ihr beruhigend übers Haar, dann löste ich mich
von ihr, zwängte mich durch den schmalen Spalt zwischen dem
Halbkugelfahrzeug und der Wand des Raums. Am Labor
vorbei, in dem noch allerlei Gerätschaften, auch Greifer,
standen, wollte ich um keinen Preis. Ich schob mich, eng an die
Wand gepresst, voran, gegenwärtig, jeden Augenblick entdeckt,
beschossen und getötet zu werden.
Unangefochten erreichte ich das Tor. Ich verhielt mit dem
Rücken zur Wand und abgespreizten Armen, schrak zusammen,
als ich mit der Rechten einen Körper, Dagmar, berührte. Ich
nickte ihr verstehend zu. Es war sicher besser, nah beieinander
zu sein.
Ich legte mich auf den Boden, schob mich an die Öffnung und
reckte langsam den Kopf nach draußen.
Die Nacht musste bald hereinbrechen.
Vom Tor aus überbrückte eine Rampe einen Meter
Höhenunterschied. Unten wuchsen hohes, saftiges Gras und
niedriges Gebüsch. Nichts, was Gefahr verhieß, konnte ich
ausmachen. „Komm!“, flüsterte ich, zog Dagmar heraus, und
wir sprangen ins Gras, krochen behänd unter die Rampe,
warfen uns lang hin, spähten verschnaufend.
Später richtete ich mich halb auf, blickte in die Runde. Hinter
uns gewahrte ich das riesenhaft aufragende Gebilde, einen hohen
grauen, zylindrischer Körper. Ein Raumschiff vielleicht, in dessen
nun leerer Ladesektion sich die grausigen Tests abgespielt hatten.
Das stand auf einer großen Lichtung. Vor uns, in fünfzig Meter
Entfernung, wuchs lichter Wald, der an einer Stelle gegen den
Horizont eine Lücke ließ, dorthin streckte sich die Bucht eines
Sees, und dort lag ein Kahn, ein einfacher, aus Brettern
genagelter und geteerter Angelkahn.
Was sich hinter dem Zylinder befand, blieb verborgen. Aber
wenn man ungesehen den Kahn erreichte…
Ich informierte Dagmar. Wir beschlossen, die Dunkelheit
abzuwarten und es dann zu versuchen.
Kaum war ich wieder in Deckung, kam ein Geräusch auf,
schlürfend, ziehend.
„Schritte“, hauchte Dagmar voller Furcht.
„Sie schreiten nicht“, sagte ich nach einer Weile des Lauschens
und hob vorsichtig den Kopf.
In einer Entfernung von vielleicht zwanzig Metern schritt
gesenkten Hauptes ein Mensch. Beinahe wäre ich
aufgesprungen, als ich ihn erkannte. Es war Alex Weber, mein
Kamerad, mit dem gemeinsam ich am Fluss aufgegriffen worden
war.
Halb hatte ich mich erhoben. Der andere sah einen Augenblick
herüber, er musste mich sehen, würde reagieren, vielleicht alles
verderben.
Der Mensch Alex Weber reagierte nicht. Sein Blick ging unstet,
irr.
Auch Dagmar hatte Ausblick gehalten. „Lass ihn“, flüsterte sie.
„Er musste durch die Glocke.“
Ich ließ mich zurückgleiten. „Du meinst, alle die…?“
„Alle. Der Kasten, durch den sie gingen…“
„Du irrst dich nicht?“
„Ich habe viele gesehen.“
In ohnmächtiger Wut riss ich Grasbüschel aus. „Diese
Schweine“, knirschte ich.
Nachdem wir vielleicht eine halbe Stunde eng aneinander
geschmiegt gewartet hatten, die Dämmerung so fortgeschritten
war, dass wir bald das Wagnis eingehen konnten, kam mir die
Idee: „Ich gehe noch einmal hinein, Dagmar“, flüsterte ich.
„Nein!“
„Es ist ruhig. Sie fühlen sich so sicher,
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