Falsche Brüder
nach Inari?“, fragte ich dann. Und da hatte
er seine Sprache wieder. „Ja – drei eurer Stunden werdet ihr
dort Zeit haben, um das Nötige zu besorgen. Ihr werdet keine
Gelegenheit haben zu entkommen.“ Es waren die ersten Worte,
die auch auf die Flucht der anderen nach dem Angriff
hindeuten konnten. Bislang schien dieser Fakt die Fremdlinge
nicht zu berühren. Und dann reagierte er irgendwie menschlich,
was ihn mir zwar keineswegs sympathischer machte, was aber
Hoffnung einflößte, eventuell doch mit ihnen ins Gespräch
kommen zu können. Er fragte: „Warum seid ihr geblieben?“
„Weil diese da bleiben mussten“, sagte ich bitter und wies auf
die Erdträger, die in der Tat wie Maschinen gruben, füllten,
trugen, kippten, marschierten.
„Denen könnt ihr nicht helfen. Warum aber sind die anderen
nicht auch geblieben?“
Ja – warum? „Es gibt solche und solche Menschen,
unterschiedliche, verstehst du. Die einen haben einen
Gemeinschaftssinn, die anderen denken nur an sich.“ Natürlich
wusste ich, dass ich in diesem Augenblick log. Ich wäre wie die
anderen gerannt, hätte ich nicht im letzten Augenblick an meinen
Auftrag gedacht. Und Nemo? Aber warum ist dieser Fred
umgekehrt?
„Unterschiedliche…“ Es war, als sänne der Fremdling diesem
Begriff nach. Dann schubste er uns in den Schweber, die Tür
schloss sich, und wir gingen in die Knie, als das Flugzeug stark
beschleunigt in den Himmel stieg.
Im Grunde reichten die Geräte und Mittel, die wir an Bord
hatten, immer noch aus, um mit unserem spärlichen Wissen eine
fachliche Aktivität zu erzeugen. Mir ging es um möglichst viele
Ansatzpunkte, damit wir in irgendeiner Weise mit diesen
Wesen in Kontakt kommen konnten. Der Aufenthalt in Inari
bedeutete: landen, aussteigen, mit Aufsicht – anders hatte ich den
freundlichen Hinweis auf eine Flucht nicht aufgefasst
–
herumlaufen. Das alles ergab Kontaktstellen.
Im Schweber suchte ich nach einer Gelegenheit, mich mit
Nemo zu verständigen, wusste zunächst nicht
– eingedenk
dessen, was ich vor kurzem im Zusammenhang mit den Geräten
erfahren hatte –, wie ich es anfangen sollte. Da erinnerte ich mich
meiner Deutschkenntnisse, die seinerzeit gut zensiert worden
waren, und ich sprach, aus taktischen Überlegungen heraus,
zunächst Fred daraufhin an. Er verneinte spontan, sodass ich
ausschloss, er täusche.
Nemo aber antwortete: „Ja, ein wenig.“
Ich erläuterte ihm meine Absicht, begründete diese
Vorsichtsmaßnahme, und er versicherte mich seiner vollsten
Unterstützung bei den Vorhaben. Zu Fred sagte ich erläuternd,
wir wollten vermeiden, dass die Fremden erführen, wie fachlich
unsicher wir eigentlich seien, denn, so log ich, meine
landwirtschaftlichen Kenntnisse rührten aus der Magdeburger
Börde, und die sei ja wohl mit diesem Landstrich hier nicht zu
vergleichen.
Noch immer hätte ich nicht zu sagen vermocht, welche
Vorbehalte mich zur Zurückhaltung gegenüber diesem Fred
veranlassten. Er sah nicht unsympathisch aus, blond,
ein
rundliches, von bauschigen Haaren umrahmtes Gesicht; er war
untersetzt mit kleinem Bauchansatz. Nur sein Blick, unstet aus
eng beieinander liegenden Augen und anderen
nicht
standhaltend, hieß mich unbestimmt auf der Hut zu
sein.
Schließlich blieb offen, weshalb die Fremdlinge vorzeitig Kunde
vom Angriff der Bomber erhielten. Dass sich
ihre
Gegenmaßnahme als verhältnismäßig unzureichend erwies, stand
auf einem anderen Blatt.
Einen Blick auf die Landschaft gestattete uns das Flugzeug
nicht. Wir befanden uns in einem runden Raum, von dem man
ein Stück abgetrennt hatte – vermutlich die Pilotenkabine. Es
gab weder Fenster noch Sitzgelegenheiten. Wir hatten also kein
Gefühl für die Geschwindigkeit, wunderten uns, kaum dass wir
uns auf dem Fußboden niedergelassen hatten, dass wir landeten.
Das bekannte Kribbeln im Magen kündigte das Niedergehen
des Flugzeuges an.
Wir landeten auf dem Marktplatz. Obwohl es ein freundlicher
Tag war, ein leichter Wind ging, über den blauen Himmel
zogen Fotografierwölkchen, überfiel uns sofort das
Gespenstische dieses Orts. Aus offenen Fenstern wehten
Gardinen; Knüllpapier und Plasttüten trieben in den Rinnsteinen
und über den Platz.
Ein Elektroauto stand mit aufgeklapptem Motorraum und
klaffenden Türen. Das Schaufenster gegenüber verschandelten
vertrocknete Zierpflanzen. In einem Aquarium
trieben
gedunsene Fische bauchoben. Irgendwo knarrte eine Tür,
mehrere streunende Katzen näherten sich
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