Falsche Nähe
aufgerissenen Augen an. »Du tickst doch nicht mehr richtig. Das sind Hirngespinste. Weißt du, was ich glaube, was auf Sande passiert ist? Die Insulaner haben sich einen Streich mit dir erlaubt. Die waren stocksauer, weil du die hässliche, alte Geschichte aufgewärmt hast, und haben dir mit Absicht einen Schrecken einjagen wollen, damit du so schnell wie möglich wieder Leine ziehst. Und das hat ja auch bestens geklappt.«
Obwohl sie nur einige Tage fort war, ist es seltsam wieder zu Hause zu sein. Das stete Brummen der Schiffsmotoren, des Verkehrs, der Stadt an sich. Der Blick aus ihrem Fenster: Fluss mit Strömung, Strudel auf der Oberfläche in der Farbe von Eistee. Die Wasserschutzpolizei auf Patrouille, volle Kraft voraus, sodass der Bug des Bootes sich aufbäumt. Alles wie immer.
Sie selbst hat sich verändert, ist jetzt Maike Noa Petersen, ohne jedoch zu ahnen, wer das sein soll. Sie kann nicht mehr dieselbe sein, weil sie hinter die Fassade ihrer Existenz geblickt hat und sich nun sich selbst nicht mehr abkauft. Aber sie kann auch nicht einfach so eine neue Identität vom Stapel lassen. Sie sitzt in der Falle.
Noa spielt am Computer rum, surft, beantwortet Mails, posted ein Handy-Foto von der Fähre in ihren Netzwerken, gibt aber nicht preis, wie es ihr wirklich geht. Ihr Online-Status: nachdenklich. Das verrät alles und nichts.
Als außer einigen Likes ihr Foto betreffend keine Reaktionen eintreffen, entschließt sich Noa, ein Bad zu nehmen. Eine gute Idee. Das warme Wasser entspannt ihre Muskeln, ihre Gedanken werden träge, und schon bald leert sich ihr Kopf wie von selbst. Anschließend fühlt sie sich besser. Angekommen. Bereit, das Phantom und alles andere wenigstens für eine kleine Weile zu vergessen. Ihr Plan für den Abend: Miriam treffen. Das ist überfällig. Schließlich ist sie ihre beste Freundin und weiß noch nichts von Moritz. So kann es mit ihnen beiden nicht weitergehen.
In ein Handtuch gehüllt, kehrt Noa in ihr Zimmer zurück, wo sie die Wäscheschublade ausgiebig nach ihrem Lieblingsslip durchwühlt. Nicht dass es wahnsinnig wichtig wäre, aber sie hat ausgerechnet diesen Slip schon ziemlich lange nicht mehr in die Finger bekommen. Bei der Gelegenheit stellt sie fest: Zwei weitere Slips und das bunte Bikini-Oberteil, das sie zuletzt auf Mallorca getragen hat, fehlen ebenfalls.
»Komisch«, murmelt Noa.
Sie schaut in der Dreckwäsche nach. Nichts.
»Kann ich mal in deiner Schublade nach Unterhosen von mir suchen?«, fragt sie Audrey. »Ich vermisse nämlich welche. Vielleicht ist da was durcheinandergekommen.«
Audrey sehr spöttisch: »Seit wann fragst du, ob du an meine Sachen kannst? Tu dir keinen Zwang an.«
Die gesuchte Unterwäsche bleibt verschwunden. Während Audrey die Angelegenheit mit einem Handwedeln abtut, als würde sie lästige Fliegen verscheuchen, ist Noa alarmiert genug, um im Verlauf des Tages ihr Zimmer auf der Suche nach weiteren Veränderungen genauestens unter die Lupe zu nehmen. Die ersten Entdeckungen lassen nicht lange auf sich warten: In ihrem Schmuckkästchen fehlt einer ihrer Nasenstecker, und zwar der mit einem roten Rubin als Steinchen, den sie aus Angst, man könnte ihn der Farbe wegen mit einem Pickel verwechseln, kaum trägt. Ihr Kritzelblock, ein Sammelsurium aus Zeichnungen, Notizen und Kladden für irgendwelche Hausaufgaben, ist unauffindbar, genau wie ihre schicken silbernen Haarspangen aus New York und ihr Poesiealbum, das sie mit vierzehn in einer nostalgischen Phase begonnen hat. Im Bücherregal steht Harry Potter nicht mehr in der richtigen Reihenfolge. Kein Zweifel: Jemand hat sich hier nicht nur ausgiebig umgesehen, sondern auch nach Lust und Laune bedient.
»Was ist mit Moritz?«, fragt Audrey, als Noa ihr später davon berichtet. »Der steht doch auf dich. Sag nicht, du hast das nie bemerkt.«
»Wir sind zusammen«, sagt Noa steif.
»Oh.« Audrey wirkt wenig begeistert, was Noa überrascht. Sie hätte eher angenommen, die Beziehung sei aus der Sicht ihrer Schwester ausdrücklich erwünscht, da sie nach Noas Interpretation einen Verkuppelungsversuch nach dem anderen gestartet hat.
»Okay«, sagt die Schwester langsam. »Das wusste ich natürlich nicht. Herzlichen Glückwunsch.«
Noa murmelt ein Dankeschön.
»Aber das spricht natürlich erst recht dafür, dass Moritz deine Sachen an sich genommen hat. Als du weg warst, hat er hier übernachtet und hatte alle Zeit der Welt, sich unbemerkt in deinem Zimmer zu bedienen. Das
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