Falsche Nähe
ernste Angelegenheit. Er hat das Thema angezettelt, jetzt braucht er nicht zu probieren, alles ins Lächerliche zu ziehen. Offenbar ist genau das seine Absicht.
»Ich glaube, du bist nicht gerade der größte Fan meines Vaters«, witzelt er.
»Gut beobachtet. Und ich sag’ das nicht zum Spaß. Dein Vater ist fast schon ein Ausschlusskriterium.«
Seine Stimmung kippt. »Mann Noa, das nervt. Du machst alles komplizierter, als es ist.«
»Es könnte ja auch komplizierter sein, als du denkst. Hast du das mal in Erwägung gezogen?«
Ruckartig steht Moritz auf, um sein Tablett abzuräumen. Noa bleibt sitzen und schmollt. Als sie den Blick durch den Raum wandern lässt, fühlt sie sich auf unheimliche Weise von glücklichen Paaren umzingelt: Alte, Junge, Eltern mit kleinen Kindern, alle wirken heiter und verliebt, froh, im Urlaub zu sein, abschalten zu können. Warum kann sie nicht einfach auf Wolke sieben schweben, frisch verliebt, wie sie ist? Vielleicht zerbricht sie sich ja wirklich über zu viele Dinge den Kopf.
Hinter Noa fällt die Tür ins Schloss. Sie ist allein. Moritz hat den X5 in die Garage gefahren und sich dann mit dem Hinweis von ihr verabschiedet, er müsse mal wieder bei seiner Mutter vorbeischauen. Er würde sich melden. Weiter haben sie nichts verabredet. Kein Abschiedskuss, obwohl sie sich irgendwo hinter Bremen – während über der Autobahn ein Hagelschauer niederging – vertragen hatten. Die Hagelkörner hatten auf das Autodach eingedroschen, als würden sie angegriffen. Wahrscheinlich hielt er sich für nett, sie nicht gleich mit einer neuen Verabredung unter Druck zu setzen. War es ja auch. Der Löwenanteil des Problems liegt sowieso bei ihr.
Noa horcht in die Wohnung hinein. Keine Musik, kein Radio, kein Fernsehen. Dennoch spürt sie die Anwesenheit ihrer Schwester und geht davon aus, dass Audrey in ihrem Arbeitszimmer über einem neuen Werk brütet. Die Stille hat etwas Hochkonzentriertes.
Ihre Schritte locken Pancake an. Auf dem Weg in ihr Zimmer kommt der Kater ihr entgegen, und Noa geht in die Hocke, um ihn zu begrüßen. Er drückt sein Köpfchen gegen ihre Hand und streift ein paar Mal um sie herum, will aber nicht hochgehoben werden.
Dann öffnet sich die Tür zum Arbeitszimmer und Audrey steht vor ihr.
»Da bist du ja wieder«, stellt sie fest. Das schlechte Gewissen, das sie Moritz zufolge noch vor zwei Tagen so sehr gepiesackt haben soll, scheint verflogen. Ihre Miene, ihre Haltung und ihr Tonfall signalisieren pure Angriffslust: arrogant und grimmig.
Wie es den eingefahrenen Mustern ihres Miteinanders entspricht, fühlt Noa sich sofort klein. Ihr Vorsatz, Audrey zu schneiden, kommt ihr undurchführbar vor. Allerdings bringt sie auch keinen Ton heraus.
Audrey hingegen schimpft sofort los. »Der verdammte Kater soll mir bloß unter die Augen treten.«
»Wieso?«, fragt Noa und kaut auf der Innenseite ihrer Wange, als hätte sie etwas ausgefressen oder wäre für jedwede Missetat ihres Haustiers auch bei eigener Abwesenheit exklusiv verantwortlich.
»Wieso? Komm mit, ich zeig’s dir.«
Audrey führt Noa in die Küche, wo sie auf die Schranktür unter der Spüle deutet. Dahinter verbirgt sich der Mülleimer. Zögerlich sieht Noa nach. Essenreste, wie gewöhnlich. Auf einem Bett aus matschigen Nudeln liegt eine tote Amsel.
»Den habe ich heute Morgen auf deinem Bett entdeckt. Auf dem Kopfkissen, um genau zu sein. Als kleiner Willkommensgruß an dich, schätze ich. Habe mir allerdings erlaubt, ihn zu entsorgen. Ich denke, das war in deinem Sinne.«
Angewidert schmeißt Noa die Schranktür zu, um sie gleich darauf erneut zu öffnen und sich die vermeintliche Jagdbeute genauer anzusehen. Wo der Kopf des Vogels sein müsste, klafft ein blutiges Loch. Noas Magen zieht sich zu einem steinharten Klumpen zusammen.
»Das war nicht Pancake«, flüstert sie, einer Eingebung folgend. »Nie im Leben.«
»Wer denn sonst? Ich vielleicht?«
Heillos überfordert von der Situation und dem Ausmaß ihrer Probleme, lässt Noa die Schwester stehen. Sie hat eine ganz andere Audrey erwartet, kleinlaut und liebevoll, wie von Moritz geschildert. Falls sie in den vergangenen Tagen tatsächlich Noas wegen in Sorge war, kann sie es gut verbergen.
In ihrem Zimmer schlägt Noa kühle Luft entgegen. Audrey hat die Heizung runtergedreht.
»Na, toll. Danke für das herzliche Willkommen.«
Es gibt nichts zu tun. Die Herbstferien haben begonnen, sie hat den ganzen Tag Zeit, sich den Schwierigkeiten
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