Falsche Nähe
Tat in Haft genommen worden war, befindet sich inzwischen wieder auf freiem Fuß.
Ein Sprecher der Polizeidirektion Hamburg wollte am Abend keine Angaben darüber machen, ob zwischen beiden Taten ein Zusammenhang bestehe, und warnte vor »ausufernden Spekulationen« darüber, ob es sich um Taten eines Serienmörders handeln könne. Es werde in alle Richtungen ermittelt.
Jetzt ist er da. Der zweite Mord. Noa erinnert sich an einen Abend, als sie allein auf der Dachterrasse stand und sich vor diesem Szenario gefürchtet hat. Da sie – als Einzige? – die Warnsignale erkannt und bei aller Verwirrung richtig interpretiert hat, fühlt sie sich schuldig. Das Gefühl, versagt zu haben, schnürt ihr die Kehle zu. Ein Vierzehnjähriger ist tot, fast noch ein Kind. Könnte der Junge noch leben, wenn sie nach dem Tod der Blumenverkäuferin auf ihren Instinkt gehört hätte? Aber was hätte sie tun sollen – mit ihren wirren Theorien zur Polizei gehen? Dort hätte man sie doch nur ausgelacht. Nicht mal ihre Schwester ist bereit, ihr zuzuhören.
Die ganze Stadt steht unter Strom. Noa sieht es auf den ersten Blick. Die Art, wie die Menschen sich auf den Straßen bewegen, wie sie Abstand voneinander und vor allem von der Straße halten, wie sie sich umschauen, wenn irgendwo hinter ihnen ein Motor aufjault – alle wissen über die Morde Bescheid. Keiner will der nächste sein. Denn es könnte jeden treffen, Männer, Frauen, Kinder. Das suggerieren die Schlagzeilen, und die sind überall, fett, schwarz und anhänglich wie Schmeißfliegen. Im Smartphone, am Zeitungskiosk, auf dem Flachbildschirm im U-Bahn-Abteil, sogar auf dem Bahnsteig, per Beamer an die nächstbeste Kachelwand projiziert. Die Leute bleiben stehen, verpassen ihre Züge, um wieder und wieder zu lesen, was sie ohnehin schon wissen. Ein Wahnsinniger ist unterwegs, spielt auf einem Motorrad den apokalyptischen Reiter, in der Hand ein Schwert aus japanischem Stahl.
Jetzt muss nicht mehr viel passieren, damit eine Panik ausbricht. Das weiß auch die Staatsgewalt. Überall Polizei. Noa stellt sich vor: ein nachlässig durch die Luft geschwenkter Regenschirm löst eine wilde Schießerei aus.
Gott sei Dank: Miriam ist zu Hause. Als die beste Freundin ihr die Tür öffnet, eine Küchenschürze um die schmale Taille geschlungen, Hände und Gesicht mit Mehl bestäubt, fällt Noa ihr vor Erleichterung direkt um den Hals.
»Pass auf«, lacht Miriam. »Ich backe gerade. Du wirst ganz weiß.«
Endlich: ein Mensch, an dem der allgemeine Aufruhr scheinbar spurlos vorübergegangen ist.
»Was backst du denn?«
»Plätzchen.«
»Ist doch noch gar nicht Weihnachten.«
»Na und? Wer weiß, ob ich bis dahin nicht schon längst einen Kopf kürzer bin.«
Noa verzieht das Gesicht. Kein guter Witz. Nicht heute. Sie folgt Miriam in die geräumige Wohnküche. Auf dem Tisch, an dem sie früher so oft zusammen Hausaufgaben gemacht haben, ist der Teig ausgerollt, Backblech und Formen liegen bereit. Im Hintergrund dudelt eine Popballade.
»Gemütlich«, sagt sie nicht ohne Wehmut. In diesen vier Wänden hat sie viel Zeit verbracht. Am Kühlschrank pinnen noch dieselben Magneten wie früher, unter dem Sammelsurium aus Stundenplänen, Schnappschüssen u nd alten Konzertkarten lugen vertraute Kinderzeichnungen von Miriams jüngeren Geschwistern hervor.
Noa gießt sich gerade einen Orangensaft ein, als Miris Mutter den Raum betritt, sie herzlich begrüßt und – schließlich haben sie einander seit Wochen nicht gesehen – mit Fragen bezüglich ihres Befindens bombardiert. Unterdessen hat Miriam mit dem Ausstechen der Plätzchen begonnen.
»Mama! Wie wäre es, wenn du schon mal den Ofen vorheizt, bevor du wieder an den Computer gehst? Ich dachte, du arbeitest an einem total wichtigen Projekt. Noa will mir nämlich etwas Wichtiges erzählen.«
Miriams Mutter hebt lächelnd die Hände. »Okay, okay, schon kapiert. Ladies Talk. Dann viel Spaß noch. Und bringt mir ein paar Plätzchen vorbei, wenn sie fertig sind.« Sie stibitzt ein Stück Teig, das sie sich roh in den Mund steckt, krault ihrer Tochter kurz den Nacken und räumt das Feld.
Noa blickt ihr nach. Es ist verblüffend: Während sich ihre eigene Welt mit atemberaubender Geschwindigkeit weitergedreht hat und dabei aus den Fugen geraten ist, hat sich hier scheinbar nichts verändert. Sie wünschte, sie könnte ihrer Freundin begreiflich machen, wie wertvoll all das ist, was sie hier ihr Eigen nennen kann. Aber sie würde bloß
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