Falsche Opfer: Kriminalroman
Tommy.«
»Danke, also ich meine, nein danke. Ich glaube, die Kinder haben einiges geplant. Wir mieten wieder die Kate auf Dalarö.«
»Jaja, hol jetzt deine Totschlägerstullen«, sagte Nyberg. »Sonst kriegst du noch Ärger mit Kerstin.«
Hjelm ging hinein, kaufte in Annikas Cafe & Speiselokal ein paar ansehnlich belegte Brote und machte sich winkend auf den Weg zurück zum Präsidium.
Aber eigentlich war er an einem anderen Ort.
Anderswo.
Genauer gesagt im Restaurant Kvarnen um einundzwanzig Uhr zweiundvierzig am vorherigen Abend.
Er hielt plötzlich inne, dort auf der Kungsholmsgata. Der Riesenkomplex des Polizeipräsidiums türmte sich vor ihm auf. Nach rechts ging es zum Reichskrim in der Polhemsgata. Nach links würde er durch den schattigen Park am galanten Eingang des Länskrim in der Agnegata vorbeigehen und in der Bergsgata herauskommen, wo der deutlich anspruchslosere Eingang des Polizeibezirks City lag.
Rechts gehörte der goldenen Vergangenheit an.
Links der eher schmutzgrauen Gegenwart.
Ohne richtig zu verstehen, warum, stand er da und zauderte am Scheideweg wie Stiernhielms Herkules.
Erst jetzt war er gezwungen, etwas zu formulieren, was während mehrerer Stunden an diesem Donnerstag vor Mittsommerabend unformuliert im Vernehmungsraum in der Luft gelegen hatte. Und er hatte es ein übers andere Mal in Kerstin Holms Blick gelesen, wenn sie sich angesehen hatten, um ihre Intuition miteinander abzustimmen.
Ja – dies war ein ganz gewöhnliches graues und rohes Alltagsgewaltverbrechen in der Innenstadt von Stockholm. Aber war es nur das?
Waren es nur ihre hochgespannten Hoffnungen auf ein richtiges Verbrechen, die sie hinter dieser schäbigen Gewalttat unter Fußballfans etwas anderes vermuten ließen?
Paul Hjelm stand eine Weile dort am Scheideweg. Er spürte, wie Nybergs forschende Blicke sich in seinen Nacken bohrten. Dann akzeptierte er den Zustand der Dinge und wandte sich nach links. Kehrte zurück zur Ordnungspolizei, zur Abteilung für Gewaltverbrechen im Polizeibezirk City, und zu den grauen, aber rohen Gewalttaten.
Doch irgend etwas in ihm ahnte eine bevorstehende Metamorphose.
6
I hr Magen knurrte nicht, er brüllte. Wie wenn ein einsamer Inder durch den Dschungel schleicht und das Herz ihm bis zum Halse schlägt, und plötzlich hört er das, was man, wie er weiß, nur einmal im Leben hört.
Sehr spät im Leben.
Das Brüllen des Tigers.
Obwohl der Tiger ein kaum furchteinflößender weiblicher Bulle von fünfunddreißig war und der Inder ein verweinter junger Bursche aus Kalmar von knapp zwanzig. Und in seinem Leben war es kaum spät.
Aber spät war es im Leben seines besten Freundes gewesen. Gestern Abend. Am dreiundzwanzigsten Juni um einundzwanzig Uhr zweiundvierzig im Restaurant Kvarnen in der Tjärhovsgata auf Södermalm.
Kerstin Holm sehnte Paul Hjelm herbei. Mehr noch aber – das musste sie zugeben – sehnte sie die belegten Brote herbei, die er mitbringen würde.
Ihr Magen brüllte noch einmal auf. Mehr als mörderisch.
Aber davon merkte Johan Larsson aus Kalmar nichts. Er weinte hemmungslos. Er war vollkommen durcheinander. Er begriff nichts. Überhaupt nichts. Vier junge Burschen aus Kalmar hatten sich frohgemut nach Stockholm begeben, um zusammen mit ihrer Fußballmannschaft, dem überraschend erfolgreichen Aufsteiger in die erste Liga, Kalmar FF, ein kleines Abenteuer zu erleben. Am Mittwoch, dem dreiundzwanzigsten Juni, um neunzehn Uhr, hatten sie im Söderstadion ihre Plätze eingenommen, ihre Mannschaft angefeuert und zu einem beachtlichen 2:2 angetrieben. Durchaus zufrieden mit dem Abend, hatten sie ein Lokal aufgesucht, von dem sie hatten reden hören, Kvarnen am Medborgarplats. Da sollte Leben in der Bude sein, hatten sie gehört. Sie wussten indessen nicht, dass die Bude brechend voll war mit enttäuschten Hammarbyfans, deren gesammelte Frustration über den letzten Tabellenplatz sich jetzt dem Siedepunkt zu nähern begann. Und keiner hatte ihnen Glauben geschenkt, als sie wie Petrus dreimal ihren Meister verleugneten. Statt dessen war einer von ihnen gestorben. Sein Blut war in Johan Larssons Hände geflossen, war zwischen den Nähten seines rotweißen Spielertrikots hervorgeströmt, und das Leben würde nie wieder so sein, wie es gewesen war.
Vielleicht würde er das Meer von Blut vergessen, vielleicht würde er sogar seinen alten Freund, Anders Lundström, vergessen, doch nie würde er den blinden Hass vergessen. Die Wut ohne jedes Maß. Diese
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