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Falsche Opfer: Kriminalroman

Falsche Opfer: Kriminalroman

Titel: Falsche Opfer: Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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nahm Abschied von einem Teil seines Lebens und begrüßte einen neuen. Einen besseren. Denn dass es schlimmer werden könnte, war ja unmöglich. So ging er weiter durch den Wald. Er erkannte die Festgesellschaft unten am Wasser. Sie tranken. Eine Weile stand er still am Waldrand. Dann atmete er ein paar Mal tief durch, brachte seine neue Sommerkleidung in Ordnung und näherte sich ihnen. Sie kamen ihm lachend und grölend entgegen. In seinem Innern drehte sich alles vor Freude. Sie griffen seine Arme, bogen sie nach hinten, banden ihn an einen Baum und flößten ihm Schnaps ein, bis er sich erbrach. Er stand da wie ein halb geschmückter Maibaum, seine neuen, feinen Sommersachen vollgekotzt. Schließlich waren sie fast hellgrün. Der Baum war geschmückt.
    Er wälzte sich in dem tristen Hotelbett auf die andere Seite und fischte Expressen vom Nachttisch. Dieser Artikel, an dem er sich festgebissen hatte, er las ihn noch einmal, zog mit dem Kugelschreiber ein paar große Kreise darum. Die Überschrift leuchtete: ›Die Schwestern, die sich in Luft auflösten‹. Dann griff er zum Handy.
    Sie lag in einem tristen Hotelbett in Falkenberg und hörte nicht einen Laut. Die kleine Stadt an der Westküste wirkte völlig ausgestorben. Kein Laut. Sie starrte an die Decke und dann auf den Aktenkoffer, der geöffnet auf dem Fußboden lag. Wenn sie Kontakt aufnähme. Aber es gab keinen Kontakt, den sie hätte aufnehmen können. Es gab nichts außer ihr und dem Bett. Einige Jahre lang hatte sie nicht in Betten schlafen können. Da erschreckten Betten sie zu Tode. Beinah buchstäblich. Sie hörte es noch. Etwas in ihr hörte noch die Schritte auf der Treppe. Aber es war schwach jetzt, fast verschwunden, als sei ihr Gehör das letzte, was sie verließ. Sie hörte nicht die Tür in dieser unverkennbaren Art und Weise aufgleiten, die lautlos sein sollte, aber es nicht war, im Gegenteil, die in ihr widerhallte, und sie wusste, dass sie für den Rest ihres Lebens in ihr widerhallen würde. Deshalb sollte es so kurz werden. Ein kurzes Leben. Deshalb erfuhr sie einen so unermesslichen Genuss, weil sie die Tür nicht aufgleiten hörte. Auch nicht spürte, wie das Laken zur Seite geschoben wurde, auch nicht den ersten Schrei, den dumpfen, gleichsam stummen wahnsinnsschreienden Schrei, auch nicht den anderen, schrilleren, vorbehaltloseren, doch auch selbstanklagenden. Sie hörte überhaupt nichts mehr, bevor sie plötzlich auf ihren fast nackten Körper hinabblickte und ihn in geronnenes Blut eingekapselt fand. Sie sah die Bandagen um die Handgelenke, sah den Beutel mit Blut am Stativ hängen und begriff, dass sie es nicht geschafft hatte. Deshalb hatte sie angefangen zu weinen. Die Familie war um sie versammelt, und man sah, man sah es unmittelbar, dass sie glaubten, es seien Freudentränen. Es waren Tränen der Trauer. Der Trauer darüber, noch zu leben.
    Er stand auf und trat ans Hotelfenster. Die Spielleute schienen ihre Dudelhölzer an den Nagel gehängt zu haben. Möglicherweise hatte jemand sie bestochen und mit einem ordentlichen Rachenputzer zum Schweigen gebracht. Er konnte bis zum Ufer des Siljan hinuntersehen. Wenn er sie an seiner Seite gehabt hätte, wäre es ein phantastischer Abendblick gewesen. Jetzt war er ihm ziemlich gleichgültig. Wie alles so lange gleichgültig gewesen war. Wann war die Wende gekommen? War es die einzige Wende, oder gab es kleinere Stationen auf dem Weg zur Endstation? Er hatte sich nach der Grundschule von ihnen abgewandt. Nie wieder Schule. Er hatte seine Tüftelei weiterbetrieben, mit der gleichen, alles andere ausschließenden Intensität wie bei den Rindenbooten. Er begann eine gewisse Genugtuung daraus zu ziehen, alles, wirklich alles hinkriegen zu können, ganz gleich, was auseinander zunehmen und wieder zusammenzusetzen war. Und er schnitzte weiter, doch keine Rindenboote mehr, sondern abstrakte Holzskulpturen. Er wusste nicht einmal, dass es Skulpturen waren, bevor jemand es ihm erzählte. Es wurde auf jeden Fall so eine Art Leben daraus, wenn er nur die anderen auf Distanz hielt. Alle anderen. Und dann tauchte diese komische Einladung auf. Klassentreffen. Die alten Kumpels wiedersehen. Als hätten sie ihn nicht schon einmal zuviel eingeladen. Er war überzeugt, dass sie die Einladung aus Versehen geschickt hatten, dass er nur zufällig noch auf einer alten Liste stand, von der er längst hätte gestrichen sein sollen. Dennoch fühlte er, dass er wirklich gehen sollte. Er war fast zwanzig. Es

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