Falsche Opfer: Kriminalroman
lag lange genug zurück und würde ihn nicht mehr umwerfen. Er würde seine Existenz zeigen, als einen rein physischen Akt der Anklage. Ihr habt es nicht geschafft, mich zu töten. Kein Hass, nur seine bloße Präsenz als Anklage. Er kam hin in der festen Überzeugung, wenn nicht angebunden und misshandelt und bepinkelt, so auf jeden Fall verspottet oder ausgeschlossen zu werden. Es war nicht so. All die alten Quälgeister waren da. Alle. Und keiner schien die geringste Erinnerung daran zu haben, wie sie ihn gequält hatten. Sie behandelten ihn anständig, lachten sogar über die Erinnerungen. Zusammen. Ausgelassen. Wie ausgelassene Kinder. Und er begriff, dass die Tortur sozusagen beiläufig stattgefunden hatte, ein wenig gedankenlos -ein bisschen Hackordnung muss sein, ein bisschen geduckt zu werden muss man schon abkönnen –, dass sie tatsächlich keine Ahnung davon hatten, was sie ihm angetan hatten. Und am allerschlimmsten würde das Wiedersehen mit dem Mädchen sein, das die treibende Kraft gewesen war. Mit den Jungs konnte er leben, doch die Demütigung, dem Mädchen zu begegnen, das als erstes gekommen war und auf ihn gepinkelt hatte, würde grauenhaft sein, davon war er ebenfalls fest überzeugt. Und auch das kam anders. Total anders. Sie hatte sich zu einer wunderbaren jungen Frau entwickelt. Ihr Blick ließ erkennen, dass sie diejenige war, die Schuld und Scham empfand, nicht er. Sie war die einzige, die überhaupt den verbotenen Teil der Vergangenheit berührte.
»Pfui Teufel, wie haben wir dich gequält«, war das erste, was sie sagte, und er konnte ihrem Blick begegnen, als sie es sagte. Und was er sah, war etwas noch Schlimmeres. Es war das erste Mal, dass er etwas Derartiges sah. Sein Blick ließ ihren den ganzen Abend über nicht los. Er saß da und las in der Tiefe der dunklen Augen ein Grauen jenseits allen Begreifens. Und in dem Augenblick wusste er, dass er alles wissen wollte. Wirklich alles.
Sie stand auf und trat ans Hotelfenster. Die Menschen begannen langsam nach Falkenberg zurückzukehren. Die Stadt war nicht mehr völlig verödet. Wenn sie ihn an ihrer Seite gehabt hätte, wäre es verlockend gewesen, in die Stadt zu gehen. Jetzt war es ihr ziemlich gleichgültig. Was war es, das sie so lange daran gehindert hatte, den Schritt zu tun? Zum erstenmal stieg ein Lichtstrahl aus der Vergangenheit auf. Es gab jemanden, zu dem sie ging, dem sie alles erzählen konnte, der zuhörte. Onkel Jubbe. Sie dachte an seine Miene, wie sein Gesicht sich in dieser speziellen Weise verfinsterte, an die Unbeholfenheit, mit der er ihr übers Haar strich, während sie dasaß und vollkommen lautlos schluchzte, wie seine Tränen auf ihr Haar fielen und langsam bis zur Kopfhaut durchsickerten. Aber am Ende genügte nicht einmal Onkel Jubbe. Sie schnitt sich die Pulsadern auf, nicht quer, sondern längs, nicht als Warnung, sondern als endgültige Lösung. Die alles andere als endgültig wurde. Sie bekam eine Einladung zu einem Klassentreffen, während sie im Krankenhaus lag. Es war wie ein Hohn. Als würde ihr die letzte Maske heruntergerissen und entblößte einen angefressenen Schädel. Das härteste Mädchen der Klasse. Ihre Handgelenke waren verheilt, doch sie weigerte sich, das Krankenhaus zu verlassen. Jeden Tag bat sie die Ärztin, eine neue Komplikation zu erfinden, und die Ärztin tat es, von Tag zu Tag mit besorgterer Miene. Schließlich war es nicht länger möglich. Sie ging auf das Klassenfest. Weit weg an der Bar des unerträglichen Golfclubs sah sie den, den sie am allerwenigsten treffen wollte, über den sie ihre Selbstverachtung ausgegossen hatte. Er sah so anders aus. So lebendig, wie neugeboren, und so furchtbar wunderbar, anders als alle anderen. Die waren alle gleich. Im selben Augenblick, in dem sie ihre ersten Worte äußerte, wusste sie, dass sie zusammengehörten.
Sie sagte: »Pfui Teufel, wie haben wir dich gequält.«
Der Rest ist, wie man sagt, Geschichte.
22
S ie hatten sich in Sundbergs Konditorei unten auf Järntorget verabredet. Sie war geöffnet, trotz des Mittsommertags. Sie nahm an, dass es wegen der Deutschen war. Nicht der Deutschen, die vor rund fünfhundert Jahren die Häuser um Järntorget herum gebaut hatten, sondern der Deutschen, die gerade an diesem Tag die Västerlanggata auf und ab schlenderten und sich fragten, warum alles geschlossen war. Sogar die Restaurants.
Jedoch nicht Sundbergs Konditorei, Schwedens ältestes Esslokal. Das Lokal war proppevoll mit
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