Falsche Väter - Kriminalroman
kleinlaut.
Werner Frege legte die Pistole auf das Beistelltischchen und ließ sich
erschöpft auf die Couch fallen. »Was hast du denn jetzt schon wieder
angestellt?«, fragte er nach einer Weile.
»Eigentlich nichts, aber sie werden mir alles anhängen. Ich war bei
Sonja und hab zugeschlagen.«
»Immer noch Sonja? Wirst du diesen Alptraum denn nie mehr los?«
»Sie hat mich zu einer Hütte geschickt. Sie meinte, ich könnte da
vielleicht für ein paar Tage Unterschlupf finden.«
»Und?«
»Ich bin hingefahren. Die Tür stand offen. Ich bin reingegangen. Es
war unheimlich. Ein Gewehr lag auf dem Tisch. Ich habe es in die Hand genommen.
Und dann habe ich den Mann gesehen. Er war tot. Verdammt! Ich glaub, Sonja hat
mich reingelegt. Was soll ich denn jetzt machen?«
»Beruhig dich erst mal«, sagte Werner Frege. »Wenn du es wirklich
nicht warst, musst du dir keine Sorgen machen.«
* * *
Van de Loo war von Dunkelheit umgeben. Er saß auf einem Hocker und
wusste nicht, wo er war. Der Raum war nicht sehr groß. Vielleicht war es ein
Hühnerstall, jedenfalls roch es nach Federvieh. Es konnten auch Tauben oder
Gänse sein. Sie waren nicht da, aber der Gestank ihrer Hinterlassenschaften
nahm van de Loo den Atem. Plötzlich öffnete sich das Schlupfloch. Licht fiel
durch das kleine Rechteck, und van de Loo sah, dass er sich tatsächlich in
einem Hühnerstall befand. Er wollte aufstehen, aber eine geheime Kraft hielt
ihn auf dem Hocker fest. Und dann verschwand das Licht, die Dämmerung hielt
Einzug, und der Kopf eines Menschen füllte das Rechteck vollkommen aus. Van de
Loo konnte nur die Haare sehen. Es musste ein Mann sein. Er versuchte mit aller
Gewalt, sich durch das Loch zu zwängen, das viel zu klein war. Sein Kopf
verformte sich, wurde schmaler und länger. Van de Loo wollte schreien. Er riss
den Mund auf, bekam aber keinen Ton heraus. Entsetzt sah er, wie sich auch der
Rest des Körpers durch das Loch schob, wobei der Mann sich wie eine Schlange
wand. Schließlich lag er vor van de Loo, das Gesicht im Kot. Van de Loo hoffte,
er würde dort für immer liegen bleiben, aber der Mann hob den Kopf, und van de
Loo schaute in sein verschmiertes, unmenschliches Gesicht.
In diesem Augenblick erwachte er. Sein Unterhemd war vollkommen durchgeschwitzt.
Er sah auf die Uhr. Es war Sonntagmorgen. Die Leuchtziffern zeigten 3.28 Uhr.
Wieso muss ich immer so einen Mist träumen?, fragte er sich.
Er schloss die Augen und dachte noch einmal an die seltsamen
Traumbilder zurück. Dabei hörte er Johanna neben sich atmen. Die Regelmäßigkeit
ihrer Atemzüge verriet ihm, dass sie tief und fest schlief. Er rückte näher an
sie heran, schlang seinen Arm um ihren Körper und atmete ihren herben
Schlafgeruch ein. Sie lag auf dem Bauch, den linken Arm ausgestreckt, wie
immer. Er nahm ihre Hand und nuckelte wie ein Baby an ihrem Daumen.
»Was machst du?«, murmelte sie und entzog ihm ihre Hand.
»Ich liebe dich.«
»Und deshalb weckst du mich?«
Sie drehte sich stöhnend auf die Seite und schlief weiter. Van de
Loo lag noch eine Zeit lang wach, dann schlief auch er wieder ein. Als er
erneut erwachte, stand er auf, zog sich an und ging in die Küche, um Kaffee zu
kochen. Es dauerte nicht lange, bis Johanna dazukam. Sie hatte seinen blauen
Bademantel an und sah ziemlich verschlafen aus.
»Soll ich Tante Gertrud und die Mädchen wecken?«, fragte sie.
»Warte noch«, sagte van de Loo. »Anna braucht ihren Schlaf. Außerdem
wäre ich gern noch ein wenig mit dir allein.«
»Wir waren die ganze Nacht allein.«
»Ich möchte dich etwas fragen.«
»Dann gib mir einen Kaffee und schieß los! Oder ist es was
Schwieriges?«
Van de Loo schüttete das heiße Wasser in den Filter. Er hasste
Überflüssiges. Elektrische Eierkocher. Brotschneideautomaten. Mikrowellen. Das
ganze Zeug. Es war genauso überflüssig wie dummes Geschwätz.
»Kann es sein, dass eine Frau ihrem Vergewaltiger verzeiht?«, fragte
er und stellte Johanna den Kaffee hin.
»Du meinst Anna.«
»Ja«, sagte van de Loo.
»Toten kann man leicht verzeihen«, sagte Johanna. »Bei Lebenden ist
das schwieriger.«
»Wie meinst du das?«
»Na ja. Ich kann mich an eine Situation aus meiner Kindheit
erinnern. Ein Nachbar, den ich wirklich gern hatte und bei dem ich immer auf
dem Schoß gesessen habe, hat mir urplötzlich einen feuchten Kuss auf den Mund
gedrückt. Es war Karneval. Er hatte was getrunken, und plötzlich war alles
anders. Ich habe es sofort gespürt. Ich
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