Falsche Väter - Kriminalroman
in Berührung kam, war das eine
Art Schock für mich. Ich war noch ziemlich jung und habe überhaupt nichts
kapiert. Auch heute habe ich noch Schwierigkeiten, denn die meisten Arbeiten
sind ziemlich gewöhnungsbedürftig.«
»Und später?«, fragte Anna. »Wenn wir mit der Schlossbesichtigung
fertig sind? Was machen wir dann?«
»Was schlägst du vor?«
»Ich würde am liebsten zurück auf den Hof fahren«, sagte Anna.
»Meinst du, ich könnte bei euch übernachten? Oma ist im Moment nicht das
Richtige für mich.«
»Ich denke, das lässt sich machen«, sagte van de Loo. »Du kannst bei
Katharina schlafen, oder ich mache dir ein eigenes Zimmer zurecht. Platz ist
genug.«
»Katharina wäre mir lieber«, sagte Anna. »Ich möchte wirklich nicht
allein sein heute Nacht. Ich würde sicher ganz beschissene Sachen träumen.«
»Verstehe«, sagte van de Loo. Es war keine Floskel. Er hatte
wirklich verstanden. Nicht nur, was Anna gesagt hatte, sondern auch, dass die
Geschehnisse der letzten Tage das Mädchen zutiefst verunsichert hatten und sie
einen Schutzraum brauchte, in dem sie sich frei bewegen konnte.
* * *
Das Damenrad war viel zu klein für Karl. Er hatte es am
Bahnhofsvorplatz entdeckt. Es war nicht abgeschlossen gewesen. Ein altes
Fabrikat, mit Netzen links und rechts vom Hinterrad, damit sich die Rockzipfel
nicht in den Speichen verfingen. Außerdem war der Hinterreifen platt. Karl
stemmte sich wütend in die Pedale, und die Felge trommelte im Rhythmus seiner
Flüche über das holprige Straßenpflaster niederrheinischer Dörfer.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichte er sein Ziel. Er sah auf
dem Klingelschild nach, ob er sich nicht geirrt hatte. Dann stellte er das Rad
in einer Seitenstraße ab, ging zur Haustür und klingelte. Im Haus tat sich nichts.
Er hatte gehofft, es geschafft zu haben, aber jetzt musste er einsehen, dass es
nicht der Fall war. Es ging weiter, immer weiter, wie so oft in seinem Leben.
»Bitte«, flüsterte er. »Werner. Du kannst mich doch jetzt nicht im
Stich lassen.«
Die letzte Nacht hatte er in einer einsam gelegenen Feldscheune
verbracht. Am frühen Morgen war er weitergefahren. Er hatte nichts gegessen und
mit niemandem gesprochen, aus Angst, erkannt zu werden. Einige Leute hatten ihm
sogar ihre Hilfe angeboten, wegen des defekten Rads, aber er hatte jedes Mal in
Panik die Flucht ergriffen. Er musste zu Werner. Werner hatte ihn im Gefängnis,
so gut es ging, unterstützt, und sie waren Freunde geworden. Niemand sonst
konnte ihm helfen.
Jetzt sah er, dass ein Dachfenster nur angelehnt war und kletterte
das Fallrohr hinauf. Im Knast hatte er täglich trainiert, was ihm jetzt
zugutekam. Wenig später stand er auf dem Speicher. Er versuchte, sich zu
orientieren, erkannte eine Tür und tastete sich die Treppe hinunter. Im
Wohnzimmer atmete er auf. Er hatte es doch noch geschafft. Die Verlockung, in
die Küche zu gehen und den Kühlschrank zu plündern, war groß, aber er riss sich
zusammen. Er wollte warten, bis Werner kam.
Obwohl Karl kaum die Hand vor Augen erkennen konnte, machte er kein
Licht. Er traute sich nicht einmal, den Fernseher einzuschalten, legte sich auf
die Couch, streckte die Beine und schloss die Augen. Im selben Augenblick warf
sich die Müdigkeit wie eine warme Wolldecke über ihn, und er schlief ein.
Ein Geräusch schreckte ihn auf. Er schnellte hoch, hielt den Atem an
und lauschte. Er stand wie erstarrt vor der Couch und hörte, wie jemand die
Haustür aufschloss und leise vor sich hinpfiff. Dann landete ein Schlüsselbund
rasselnd auf einer Holzplatte. Eine Reisetasche fiel auf den Boden, und ein
schwaches Licht schimmerte ins Wohnzimmer.
Karl wusste nicht, was er tun sollte. Er wollte seinen Namen rufen,
brachte aber nur einen Krächzlaut heraus, und es kam keine Antwort. Stattdessen
ging das Licht im Flur wieder aus, und Karl hatte das Gefühl, jetzt nur noch
Fehler machen zu können.
Augenblicke später flog die Wohnzimmertür auf, das Licht ging an,
und Werner stand in der Tür, eine Pistole im Anschlag.
»Keine Bewegung!«, brüllte er, vor Aufregung zitternd.
Karl rührte sich nicht.
»Was willst du in meinem Haus?«
»Mensch, Werner. Ich bin es, Charly!«
»Du Idiot!«, schrie Werner Frege. »Bist du wahnsinnig geworden? Um
ein Haar hätte ich dich abgeknallt. Was machst du hier?«
»Ich hab Mist gebaut und muss mit dir reden.«
»Und deshalb brichst du bei mir ein?«
»Ich wusste nicht, wo ich sonst hinsollte«, sagte Karl
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