Falsche Väter - Kriminalroman
schob die Glastür auf und trat ins Freie. Er schlüpfte aus den
Lederpantoffeln und ging barfuß über den Kies, um die Blätter einzusammeln und
zu einem Eimer zu bringen. Dann nahm er eine Harke und schritt in die Mitte des
Gartens. Er verbeugte sich und begann zu tanzen. Jedenfalls sah es so aus. Mit
geschmeidigen Bewegungen bewegte er sich vorwärts und zog dabei die Harke
hinter sich her. Er ging im Kreis und entfernte sich immer weiter vom
Mittelpunkt des Gartens. Als er den äußersten Rand erreicht hatte, umrundete er
das Steinfeld ein letztes Mal und sprang schließlich mit einem Satz auf einen
größeren Stein, der vor der Glastür lag. Er hob die Harke in die Luft und
verbeugte sich erneut. Sein Blick glitt über das Muster, das er geschaffen
hatte. Er war zufrieden. Noch hatte kein neues Blatt die Ordnung zerstört.
Er schlüpfte in die Lederpantoffeln, trat ins Haus zurück und
schloss die Glastür. Dann wandte er sich um und ging zu dem niedrigen
Tischchen, auf dem die Teeschale stand. Er hatte bereits eine neue Schale
bestellt, ein wertvolles Stück, noch feiner gearbeitet als die letzte. Aber das
wirkliche Meisterwerk würde noch folgen. Eine Raku-Keramik aus der Mamoyama-Zeit.
Über vierhundert Jahre alt. Eigentlich unbezahlbar. Aber er wäre auch bereit
gewesen, sein ganzes Vermögen für dieses Gefäß aufs Spiel zu setzen. Wenn der
Augenblick gekommen war, in dem er diese Schale in seinen Händen halten und aus
ihr trinken würde, würde Geld für ihn keine Rolle mehr spielen. Nie mehr!
* * *
»Manchmal denke ich, es war nur wegen ihres Namens. Sie hatte
nämlich den schönsten Namen der Welt. Sarah. Sarah Rosenboom. Ich habe sie
darum beneidet. Wenn ich den Namen hörte, habe ich mir immer einen Baum
vorgestellt. Einen Baum mit einem hohen, schlanken Stamm und großer Krone. Und
an diesem Baum wuchsen Rosen, ganz viele Rosen in den unterschiedlichsten
Farben. Das habe ich immer gedacht, wenn ich Sarahs Namen hörte.«
Tante Gertrud hielt inne. Auf ihrem Schoß lag die Zigarrenkiste, die
van de Loo auf dem Speicher gesehen hatte. Tante Gertrud hielt sie mit ihren
mageren Händen fest umklammert. Das Stück Kuchen, das vor ihr auf dem Teller
lag, hatte sie nicht angerührt. Niemand sagte ein Wort. Alle sahen Tante
Gertrud an und warteten darauf, dass sie mit ihrer Geschichte fortfuhr.
»Wir sind zusammen in den Kindergarten gegangen, und in der Schule
haben wir nebeneinander in einer Bank gesessen. Ich habe mich jeden Morgen auf
die Schule gefreut, weil ich dann Sarah sehen konnte. Wir wurden größer. Wir
wechselten auf die höhere Handelsschule, und unsere Freundschaft wurde immer
enger. Wir sind zusammen mit dem Rad zur Schule gefahren, und ich habe oft bei
Sarah übernachtet. Wir haben dann im selben Bett geschlafen. Hierher, zu mir
nach Hause, ist sie aber nur ganz selten gekommen. Meine Schwester Luise war
eifersüchtig, und meine Eltern wollten nicht, dass Sarah mich besuchte. Sie
sagten, Sarah wäre nicht der richtige Umgang für mich. Ich habe lange nicht
verstanden, was sie gegen Sarah hatten. Ich vermutete, sie hätten gemerkt, dass
ich mich in sie verliebt hatte. Aber das war gar nicht der wirkliche Grund, wie
ich später erfahren habe.«
Wieder machte Tante Gertrud eine Pause, und alle starrten auf ihre
Teller.
»Eines Tages ist sie nicht zur Schule gekommen. Ich habe Frau
Maltritz, unsere Lehrerin, gefragt, ob sie wüsste, was mit Sarah los sei. Sie
hat mich ganz komisch angeguckt. Und dann hat sie gesagt, dass Sarah die Schule
verlassen hätte und nicht wieder zurückkommen würde. Ich konnte das nicht
verstehen, weil Sarah die Beste aus der Klasse war. Und dann hat Frau Maltritz
gesagt, Sarah hätte den falschen Namen und würde schon deshalb nicht auf die
Schule passen. Sie kam tatsächlich nicht wieder. Sie ging überhaupt nicht mehr
zur Schule. Wir mussten uns heimlich treffen, unten an der Niers. Da hatten wir
ein Versteck, und im Sommer haben wir dort gebadet. Ich habe ihr alles
haarklein berichtet, was wir in der Schule durchgenommen haben. Ich wollte ja
nicht, dass sie den Anschluss verpasst. Und dann hat sie mir irgendwann
erzählt, dass schon viele ihrer Verwandten geholt und weggebracht worden waren.
Niemand wusste genau, wohin und was dort mit ihnen geschah. Ihr Vater hatte
keine Arbeit mehr. Ihre Mutter ist krank geworden. Ihr Bruder ist eines Nachts
abgehauen und nicht wiedergekommen. Sie hungerten. Ich habe ihr zu jedem
Treffen etwas zu essen mitgebracht.
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