Falsche Väter - Kriminalroman
Seine neue Kollegin hatte anscheinend ein erstaunlich gutes
Gedächtnis. Nach der Lektüre der Akten hatte sie sich an jedes Detail im Fall
Grossmann erinnern können. Auch das Gespräch mit Karl Jaspers hätte sie auf
Nachfrage bestimmt wörtlich wiedergeben können. Also würde er in Zukunft seinen
Gedanken freien Lauf lassen, einfach drauflosreden, ohne auf logische
Zusammenhänge zu achten, und darauf bauen, dass Mareikes analytischer Verstand
Ordnung in das Chaos seiner Tiraden brachte.
»Anna Lechtenberg hat Theo Grossmann nicht umgebracht, genauso wenig
wie Karl Jaspers, und meiner Meinung nach gibt es einen Zusammenhang zwischen
dem Mord an Grossmann und dem an Moelderings. Wenn diese These richtig ist,
haben wir es mit einem Serienmörder zu tun«, begann er. »Es muss ein Mann sein.
Eine Frau würde sicher anders vorgehen. Und dieser Mann mordet nach einem Plan.
Er folgt einem Muster. Das heißt: Es gibt einen Grund, eine Vorgeschichte,
einen Ausgangspunkt für die Morde. Es gibt eine Ursache, und die Toten sind die
konsequente Folge. Es ist eigentlich ganz einfach. Wenn es uns gelingt, der
Sache auf den Grund zu gehen, haben wir den Fall so gut wie gelöst.«
Mareike war mit ihrem Laptop beschäftigt. Sie schien nicht
zuzuhören, aber das war Peters egal. Er zündete sich eine Roth-Händle an,
inhalierte tief und betrachtete das glühende Ende der Zigarette, während er
weiter monologisierte.
»Ganz sicher hängen die Verstümmelungen mit dieser Vorgeschichte
zusammen. Sie haben eine Bedeutung und sollen etwas deutlich machen. Vielleicht
handelt es sich dabei ja um eine Art spiegelnder Strafe. In einigen Teilen der
Welt wird das tatsächlich noch praktiziert. Einem Dieb wird die Hand abgehackt,
damit in Zukunft jeder sofort weiß, was er getan hat. Außerdem hat die Strafe
den Vorteil, dass der Dieb sich nie wieder am Hab und Gut anderer vergreifen
kann. Man hat ihn mit einem Zeichen versehen, ihn sozusagen gebrandmarkt, damit
er wiedererkannt werden kann. Auch in unserem Fall soll die ganze Welt wissen,
warum die Männer sterben mussten. Der Mörder will es uns zeigen, auch wenn wir
es vielleicht erst begreifen, wenn alles zu spät ist!«
Peters stand auf, trat ans Fenster und blies den Rauch durch den
Spalt ins Freie.
»Bei Theo Grossmann liegt die Sache auf der Hand. Grossmann hat sich
an Anna Lechtenberg vergangen und folgerichtig sein Glied eingebüßt. Der Mörder
muss also gewusst haben, dass Grossmann das Mädchen vergewaltigt hat. Hat er es
von ihm selbst erfahren? Hat Grossmann seine männliche Heldentat vorher
angekündigt? Oder hat der Mörder auf dem Hochsitz gesessen und zufällig
beobachtet, wie Anna fluchtartig die Hütte verlassen hat? Moelderings, das
zweite Opfer, hat Daumen und Zeigefinger eingebüßt. Was bedeutet das? Was will
uns der Mörder damit sagen? Welches Vergehen oder Verbrechen spiegelt sich in
diesem Verlust?«
»Sieh dir das mal an«, sagte Mareike, ohne in irgendeiner Weise auf
Peters’ Wortschwall zu reagieren.
»Hast du mir überhaupt zugehört?«, fragte Peters.
»Natürlich«, sagte Mareike. »Ich habe jedes Wort verstanden. Willst
du eine wörtliche Wiedergabe oder reicht eine kurze Zusammenfassung?«
»Verzichte«, sagte Peters. »Was hast du gefunden?«
»Einen Artikel«, sagte Mareike. »Online in der NRZ .«
»Und was steht drin?«
»Guck dir erst mal das Bild an!«
Peters ging zu Mareike, stellte sich hinter ihren Stuhl und schaute
auf den Bildschirm.
»Schöne Frau«, murmelte er.
»Das ist Jutta Moelderings. Die Exfrau des Toten. Sie sagt, dass es
höchstwahrscheinlich ein Neider aus der Reiterszene gewesen ist.«
»Na ja«, grummelte Peters.
»Außerdem will sie den Reiterhof weiterführen. Sie meint, das
Lebenswerk ihres Mannes sollte auf jeden Fall erhalten wer-den.«
»Nach dem Artikel hat sie bestimmt eine Menge neuer Kunden. Eine
bessere Werbung gibt es nicht. Sagt sie auch etwas zu den Fingern?«
»Ja. Angeblich kann man ohne Daumen und Zeigefinger ein Pferd nicht
richtig führen. Man kann es lenken, nach links und rechts, aber nicht wirklich
zügeln. Das ist offenbar Filigranarbeit, bei der jeder Finger gebraucht wird.
Ihrer Meinung nach ist das, was ihrem Exmann geschehen ist, das Gleiche, als
würde man einem Pianisten die Hand abhacken.«
»Grossmann wurde umgebracht, weil er ein junges Mädchen vergewaltigt
hat.« Peters ging zu seinem Schreibtisch und drückte die Zigarette aus. »Und
Moelderings, weil er ein verdammt guter
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