Falsche Väter - Kriminalroman
Und dann kam der Tag, an dem ich ihr die
Haare gefärbt habe.«
»Warum denn das?«, fragte Anna.
»Damit sie nicht so auffiel. Sie hatte wunderschönes dunkles Haar,
und das sah nicht besonders arisch aus.«
»Wie habt ihr das denn damals gemacht?« Anna spürte, wie angespannt
Gertrud war. Durch ihre harmlose Frage versuchte sie, die Atmosphäre ein wenig
aufzulockern.
»So ein Wasserstoffzeug«, sagte Tante Gertrud. »Das war eine
ziemliche Stinkerei. Für die Haare war es auch nicht gut, und es sah ganz
unnatürlich aus. Vielleicht lag es daran, dass wir kein warmes Wasser hatten,
unten an der Niers. Es hat auch gar nichts genutzt. Sie hätte nämlich
gleichzeitig einen neuen Pass gebraucht. Aber ich war jung und hatte nicht die
geringste Ahnung, wie ich ihr einen Pass besorgen sollte.«
»War deine Freundin eine richtige Jüdin?«, fragte Katharina.
»Was heißt richtig? Was ist falsch?«, fragte Tante Gertrud.
»Ich meine, eine Jüdin wie die Anne?«
»Welche Anne?«
»Anne Frank«, sagte Katharina. »Die haben wir im Unterricht
durchgenommen. Sie musste sich verstecken und hat ein Tagebuch geschrieben.«
»Ich habe Sarah auch versteckt«, sagte Tante Gertrud. »Hier auf dem
Hof. Zwei Monate lang. Ihre Eltern und Geschwister waren schon abgeholt worden.
Ich bin immer in dieses Versteck auf dem Speicher gegangen. Ich hatte ihr da
aus Heu und alten Laken ein Bett gemacht. Hinter dem großen Schrank, in der
Ecke. Es war wunderbar. Nie war ich so glücklich wie damals. Und nie war ich so
unglücklich wie an dem Tag, an dem sie geholt und weggebracht wurde.«
»Man hat sie geholt?, fragte Anna.
»Ja, man hat sie geholt.« Tante Gertrud weinte.
Warum weiß ich von alldem nichts?, fragte sich van de Loo. Warum hat
bis heute nie jemand darüber gesprochen?
Er wusste nur, dass sein Vater zwei Jahre nach dem Ende des Krieges
aus der Gefangenschaft zurückgekommen war und studiert hatte. Zwei seiner Onkel
waren an der Ostfront gefallen. Eine Schwester des Vaters hatte geheiratet und
war nach Amerika ausgewandert. Der Hof war dann von einem Verwalter
bewirtschaftet worden, einem polnischen Zwangsarbeiter, der nach dem Krieg dort
geblieben war. Er hatte in den ganzen Jahren keine einzige neue Maschine
gekauft, alles war auf dem alten Stand geblieben. Tante Gertrud und er waren
dabei nicht reich geworden, aber sie hatten leben können. Auf Familienfeiern
war der Mann nie dabei gewesen. Und dann war er plötzlich von einem Tag auf den
anderen verschwunden, und van de Loo war mit Johanna und Katharina auf den Hof
gezogen.
Warum weiß ich so wenig?, fragte sich van de Loo erneut, obwohl er
die Antwort kannte. Er hatte nie nachgefragt! Er hatte sich eingeredet, Trude
sei zu verwirrt, um vernünftig mit ihr reden zu können. In Wirklichkeit hatte
er gar nicht den Versuch gemacht, weil er sich im Grunde für sie und ihr Leben
nicht interessierte. Er hatte sie fünf Jahre lang nicht richtig wahrgenommen.
Jetzt schämte er sich. Mit Annas Hilfe war Tante Gertrud in die Vergangenheit
zurückgekehrt, in die Zeit, in der sie sich bestens auskannte und zurechtfand.
Anscheinend musste erst jemand von außen kommen, jemand wie Anna, um ihm die
Augen zu öffnen. Jetzt wusste er, warum Tante Gertrud nie geheiratet hatte und
von der Verwandtschaft geschnitten worden war. Trude war eine Lesbe! Und die
Familie hatte diese Tatsache aus Scham verschwiegen. Oder steckte noch mehr
dahinter?
»Ist sie verraten worden?«, fragte Anna.
Tante Gertrud nickte.
»Wer war das? Wer hat sie damals verraten?«
Tante Gertrud schüttelte lange den Kopf. Sie stellte die
Zigarrenkiste auf den Tisch und öffnete sie. Ihre Hände zitterten, als sie
einen Packen vergilbter Briefe und eine lange Halskette herausnahm und zur
Seite legte. Dann zog sie ein Bild hervor und gab es an Anna weiter. Anna
betrachtete es. Zwei junge Frauen, wunderschön und strahlend vor Glück,
lächelten in die Kamera.
»Ist sie das?«, fragte Anna und tippte mit dem Zeigefinger auf die
junge Frau, rechts im Bild.
»Ja«, sagte Tante Gertrud. »Das ist Sarah.«
»Und wer ist die andere?«, fragte Anna.
»Das bin ich«, sagte Tante Gertrud. »So sieht man aus, wenn man jung
und glücklich ist!«
Sie stand auf und verließ die Küche.
* * *
»Gehört Düren eigentlich noch zum Niederrhein?«, fragte Mareike. Sie
fuhren über die A 61. Die Sonne strahlte, der Spätsommer zeigte noch
einmal, was in ihm steckte.
»Ganz wie man’s nimmt«, sagte Peters.
»Und wie
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