Falsche Väter - Kriminalroman
wissen Sie das?«, fragte Heinz Gehlen.
»Sie haben am Telefon so etwas angedeutet«, sagte Mareike.
»Mein Vater ist seit Jahren pflegebedürftig«, sagte Gehlen. »Er
hatte einen Schlaganfall und leidet zudem unter Asthma. Ich kann ihm nicht
zumuten, in ein Altenheim zu gehen. Mein Vater braucht mich. Ich habe keine
eigene Wohnung. Ich schlafe hier, auf dem Sofa. Ich kümmere mich um ihn, so gut
es geht. Zweimal in der Woche kommt jemand vom Pflegedienst.«
»Und Sie?«, fragte Peters. »Was ist mit Ihrer Familie?«
»Mein Sohn ist vor langer Zeit angefahren worden«, antwortete
Gehlen. »Er ist auf der Straße verblutet, weil nicht sofort Erste Hilfe
geleistet wurde. Meine Frau hat seinen Tod nicht verkraftet. Sie hat mich ein
paar Jahre später verlassen. Sie hat die Vergangenheit nicht aushalten können.«
Mareike trat ans Fenster und zog die vergilbten Gardinen beiseite.
»Da unten ist es passiert«, sagte Gehlen.
»Direkt vor diesem Fenster?«
»Ja«, sagte Gehlen müde. »Mein Vater hat alles beobachtet.«
»Er hat gesehen, wie sein Enkel angefahren wurde?«
»Ja. Er stand hier oben und wartete auf Jens. Mein Sohn sollte hier
übernachten, weil ich mit meiner Frau noch zur Annakirmes wollte. Er hat seinen
Opa sehr geliebt.«
»Warum hat er nicht geholfen?«
»Er hat einen Schock erlitten. Als er wieder zu sich kam, war es
schon zu spät.«
»Und in all diesen Jahren hat Ihr Vater auf die Unglücksstelle
geschaut?«
»Er saß stundenlang hier und war nicht ansprechbar. Ich habe ihm
immer gesagt, dass er die Sache vergessen muss. Aber er konnte es nicht.«
»Vielleicht hätten Sie dafür sorgen sollen, dass er umzieht. Dann
wäre ihm das Vergessen sicher leichter gefallen.«
»Einen alten Baum verpflanzt man nicht«, sagte Gehlen.
»Und Ihr Vater hat herausgefunden, wer der Fahrer des Unglücksautos
war?«
»Es hat ihm keine Ruhe gelassen. Er hat den Wagen gesehen, aber das
Nummernschild nicht erkannt. Er wusste nur den Wagentyp und die Farbe. Und dann
hat er nachgeforscht. Es war eine Manie. Niemand konnte ihn davon abhalten. Bis
zu seinem Schlaganfall hat er weitergemacht. Es war schrecklich. Er hat von
nichts anderem mehr geredet.«
»Ist seine Hartnäckigkeit denn belohnt worden?«, fragte Peters.
In diesem Augenblick hörten sie ein furchtbares Geräusch. Es war ein
Husten, wie Peters es noch nie gehört hatte. Gehlen sprang auf und hastete ins
Nebenzimmer. Peters und Mareike hörten ihn beruhigend auf seinen Vater
einreden, der jetzt würgende Schreie ausstieß. Es hatte nichts Menschliches. Es
erinnerte Peters an ein sterbendes Tier. Dann ebbten die Geräusche ab. Und
schließlich herrschte wieder Stille.
»Entschuldigen Sie«, sagte Gehlen, als er ins Wohnzimmer zurückkam.
»Er hat sich aufgeregt. Er hat wohl gemerkt, dass Sie gekommen sind. Gut, dass
es Cortison gibt. Mein Vater wäre sonst bestimmt schon längst erstickt.«
»Hat Ihr Vater etwas herausgefunden?«, fragte Peters erneut.
»Ja«, sagte Gehlen. »Warten Sie. Ich hole Ihnen die Sachen.«
Wenig später kam er mit einem halben Dutzend Aktenordner zurück. Sie
waren sorgsam nummeriert, und auf jedem stand in schwungvoller Schrift »Jens«.
Mareike schlug den Ordner mit der Nummer eins auf. Es war eine Sammlung von
Zeitungsartikeln. Die meisten hatte sie schon in der Kladde von Hubert
Moelderings gesehen.
»Mein Vater hat tatsächlich zwei der Männer ermitteln können, die
damals im Auto gesessen haben müssen«, sagte Gehlen. »Er hat jahrelang im
Dunkeln getappt, aber dann hat der Betreiber eines Kinderkarussells ihm den
entscheidenden Tipp gegeben.«
»Und?«
»Was, und?«
»Wer war es? Wer saß damals im Auto?«
»Hubert Moelderings und Theo Grossmann.«
»Sie sind beide tot«, sagte Peters. »Was hat Ihr Vater gemacht,
nachdem er wusste, wer es war?«
»Er hat ihnen Drohbriefe geschrieben. Er wollte die ganze Wahrheit
erfahren. Schließlich hatte er vier Männer gesehen. Es hat ihm keine Ruhe
gelassen. Es musste erst der Schlaganfall kommen.«
»Dürfen wir die Ordner mitnehmen?«, fragte Mareike.
»Nur wenn Sie sie mir wieder heil zurückbringen. Das ist ja
sozusagen das Lebenswerk meines Vaters!«
»Wir werden achtsam damit umgehen«, versprach Mareike.
»Haben Sie das Werk Ihres Vaters fortgesetzt?«, fragte Peters.
»Ich?«
»Ja. Sie. Sie sind schließlich der Vater des Jungen. Außerdem ist
Ihre Ehe an dem Schicksalsschlag zerbrochen. Sie haben allen Grund, sich zu
rächen. Haben Sie das
Weitere Kostenlose Bücher