Falsche Väter - Kriminalroman
wurde erschossen.«
»Auf der Jagd? Ich hab ihm immer gesagt, er soll vorsichtig sein.«
»Er ist schon lange nicht mehr auf die Jagd gegangen.«
»Wie ist es denn dann passiert?«
»Er ist ermordet worden. In der Hütte!«
»Ermordet? Ja, stimmt. Jetzt erinnere ich mich. Das hat mir der Mann
von der Polizei erzählt. Auch Hubert soll tot sein. Hubert Moelderings. Der
Tröster der Betrübten und Schwarm aller Mädchen. Wie man mir gesagt hat, wurde
er erschlagen! Kannst du mir sagen, warum solche Sachen passieren müssen?«
Sonja sah ihre Tochter zum ersten Mal richtig an. »Warum können die Menschen
nicht friedlich miteinander leben?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Anna. Sie winkte van de Loo zu sich.
»Tach«, sagte er und reichte Sonja Lechtenberg die Hand.
»Kennen wir uns von irgendwoher?«, fragte sie.
»Nicht dass ich wüsste«, sagte van de Loo.
»Was wollen Sie dann hier? Oder sind Sie der neue Freund meiner
Tochter?« Sonja Lechtenberg lachte. Van de Loo ging mit keinem Wort auf die
Bemerkung ein.
»Frau Lechtenberg, kann ich irgendwas für Sie tun?«, fragte er nach
einer Weile.
»Sie stellen Fragen wie ein Geistlicher«, sagte Annas Mutter.
»Gut. Dann sage ich Ihnen jetzt mal, was der liebe Gott vorhat. ER will, dass Anna in die Stadt geht und
neue Sachen für Sie kauft. ER will, dass Sie mit mir zum ›Nordbahnhof‹ fahren. Das will ER . Und Gottes Wille sollte den Menschen
heilig sein!«
»Was sollen wir denn im ›Nordbahnhof‹? Ich hab keine Lust, einen
Ausflug mit dem ›Schluff‹ zu machen!«
»Im ›Nordbahnhof‹ gibt es ein Restaurant. Ich kenne zufällig den
Besitzer«, sagte van de Loo. »Da können Sie sicher duschen und sich ein wenig
frisch machen, wie es so schön heißt. Danach kleiden Sie sich neu ein, und wir
essen gemeinsam.«
»Ich kann doch so nicht unter Menschen«, sagte Sonja.
»Sie sind unter Menschen«, sagte van de Loo.
»Und meine Sachen?«
»Die nehmen wir mit.«
Sonja Lechtenberg war schließlich einverstanden, dass Gottes Wille
geschah. Van de Loo trug ihre schmutzigen Habseligkeiten zum Auto und verstaute
sie im Kofferraum. Er gab Anna Geld und setzte sie in der Innenstadt ab. Dann
fuhr er zum »Nordbahnhof«. Zum Glück war Viktor da. Er sorgte dafür, dass Sonja
die Angestelltendusche benutzen konnte.
Van de Loo saß an der Theke und trank einen Schnaps. Er war ziemlich
zufrieden mit sich und dem lieben Gott. Als Anna von ihrem Einkaufsbummel
zurückkam, strahlte sie. Sie hatte ihrer Mutter sogar sündhaft teure Unterwäsche
gekauft. Von dem Betrag, den van de Loo ihr mitgegeben hatte, war nur lumpiges
Kleingeld übrig geblieben. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass er alle
Ausgaben Johannes Winkens in Rechnung stellen würde.
Anna ging zu ihrer Mutter, die scheinbar gar nicht mehr aus der
Dusche herauskommen wollte. Als die beiden in den Schankraum zurückkehrten, sah
Sonja Lechtenberg ziemlich verändert aus. Anna hatte die Blessuren geschickt
überschminkt, und Sonjas Lippen leuchteten in einem satten Rot. Ihr Haar hatte
sie hochgesteckt, und sie trug ein luftiges Sommerkleid und leichte Sandalen.
Van de Loo stand auf, sie gingen zu einem Tisch und nahmen Platz. Sofort wurden
die Speisekarten gebracht.
»Ich kann das nicht lesen«, sagte Sonja. »Meine Brille ist weg.«
»Ich les dir vor, was es gibt«, sagte Anna. »Oder hast du einen
besonderen Wunsch?«
»Ja«, sagte Sonja. »Ein Bier!«
Zum ersten Mal hörte van de Loo sie lachen. Er schaute sie an und
erkannte mit einem Schlag den Menschen hinter der Fassade des Unglücks. Er sah
die Frau, die Sonja einmal gewesen war. Sie musste früher sehr schön gewesen
sein, und es gab keinen Grund für Anna, sich für diese Mutter zu schämen.
Das Bier wurde gebracht. Sonja strich mit ihren Fingern lange über
das feuchte Glas, dann trank sie einen kleinen Schluck und stellte das Glas
wieder auf den Bierdeckel zurück.
»Anna«, wandte sie sich an ihre Tochter. »Bist du so lieb und lässt
mich eine Weile mit Herrn van de Loo allein?«
»Warum denn?«
»Weil ich nicht möchte, dass du hörst, was ich jetzt sagen werde.
Bitte tu mir den Gefallen. Du wirst noch früh genug alles erfahren.«
Anna stand auf und ging zur Theke. Ihre Mutter trank noch einmal von
ihrem Bier. Und dann erzählte Sonja Lechtenberg van de Loo ihre Geschichte.
* * *
Als van de Loo ins Schlafzimmer kam, legte Johanna das Buch
beiseite, in dem sie gelesen hatte, und sah ihn erwartungsvoll an.
»Wie
Weitere Kostenlose Bücher