Falsche Väter - Kriminalroman
hatte.
Johannes Winkens war in Begleitung seiner Frau gekommen und hatte
einen Platz in der Mitte gewählt. Er hatte eine ernste, undurchschaubare Miene
aufgesetzt und die Hände vor seinem beträchtlichen Bauch zusammengelegt. In
seinem langen, dunklen Mantel und dem schwarzen, breitkrempigen Hut wirkte er
wie ein alter Patriarch. Er sah sich immer wieder um, und wenn er zwischendurch
seiner Frau etwas zuflüsterte, beugte er sich gönnerhaft zu ihr hinab.
Nachdem Grossmann seine letzte Ruhe gefunden und die Trauergäste
ihre Blumen ins Grab geworfen hatten, ließ Winkens es sich nicht nehmen, die
Witwe tröstend in die Arme zu schließen. Für van de Loos Geschmack ein wenig zu
lange. Nachdem Monika Grossmann im Kreis der engsten Verwandten den Friedhof
verlassen hatte, ging van de Loo zu Winkens. Anna hielt sich im Hintergrund.
»Conrad van de Loo«, sagte er und gab erst Frau Winkens, dann ihrem
Mann die Hand.
»Ach Sie sind das«, sagte Johannes Winkens. »Freut mich, Sie
kennenzulernen. Allerdings könnte man sich bessere Umstände für eine erste
Begegnung wünschen, nicht wahr?«
»Ja«, sagte van de Loo. »Und das Schlimme ist, dass Sie schon bald
erneut auf eine Beerdigung gehen müssen.«
»Wenn das so weitergeht, bin ich bald Stammgast auf Friedhöfen«,
sagte Winkens und lachte kurz auf. Seine Frau schien es gewohnt zu sein, ihrem
Mann in jeder Situation hilfreich zur Seite zu stehen, denn sie lachte
ebenfalls.
»Macht Ihnen das keine Sorgen?«, fragte van de Loo.
»Schon. Aber ich habe keine Lust, klein beizugeben. Ich gehe jetzt
in die Offensive. Die Öffentlichkeit soll wissen, dass ich mit den Toten befreundet
war. Mauern hilft nicht. Das gibt nur Anlass zu Spekulationen. Es ist mein
ausdrücklicher Wunsch, dass die Fälle restlos aufgeklärt werden.«
»Das wünscht sich der ganze Niederrhein«, sagte van de Loo. »Ich
konnte allerdings bislang nicht viel bewerkstelligen. Und den Tod von Hubert
Moelderings konnte ich schon gar nicht verhindern. Ich werde den Rest des
Honorars in den nächsten Tagen an Sie zurücküberweisen.«
»Tun Sie das nicht«, sagte Winkens mit Nachdruck. »Bleiben Sie am
Ball. Ich will wissen, was los ist. Von mir aus können Sie alles in Rechnung
stellen. Auch die Stunden, in denen Sie nur über die Morde nachdenken. Ich wäre
froh, wenn Sie weiterhin für mich arbeiten würden.«
»Für den Personenschutz bin ich zu alt«, sagte van de Loo.
»Darum geht es nicht«, sagte Winkens. »Sie können mir glauben, dass
ich ganz gut auf mich selbst aufpassen kann. Außerdem habe ich ja meine Frau.«
Er lachte wieder, und sie ließ sich nicht lange bitten. »Allerdings gibt es
jemanden, der auch zum Freundeskreis gehörte und um den ich mir wirklich Sorgen
mache.«
»Und der wäre?«
»Er heißt Thomas. Thomas Schelling. Er gehörte zum Kleeblatt, meinte
aber immer, etwas Besonderes zu sein. Leider habe ich ihn seit Monaten nicht
mehr gesehen. Und gehört habe ich auch nichts mehr von ihm.«
»Wieso?«
»Es gab Meinungsverschiedenheiten.«
»Weshalb?«
»Weil ich ihm die Wahrheit gesagt habe.«
»War sie so schlimm?«
»Es hat den Anschein.«
»Und wo finde ich Herrn Schelling?«, fragte van de Loo.
»Ich habe mein Adressbuch nicht dabei, aber er ist Lehrer auf der
Gaesdonck«, sagte Winkens.
»Nicht schon wieder«, entfuhr es van de Loo.
»Was denn?«, fragte Winkens.
»Ich war selbst mal Schüler da.«
»Und? Hat man Sie mit eiskaltem Wasser abgespritzt? Mussten Sie im
ehemaligen Klostergarten nackt posieren oder hat man andere schmutzige Dinge
von Ihnen verlangt? Gehören Sie etwa auch zu den Missbrauchsfällen in der
katholischen Kirche?«
»Nein«, sagte van de Loo. »Das habe ich alles nicht erlebt.
Eigentlich war es eine ganz schöne Zeit. Man hatte ein System, eine feste
Ordnung und Regeln, an die man sich halten konnte. Außerdem hatte man viele
Gleichgesinnte und ein paar gute Freunde. Jedenfalls sehe ich das heute so.«
Inzwischen hatte sich der Friedhof weitgehend geleert, und Anna
stand ein wenig verloren vor den Gräbern herum.
»Wer ist denn die junge Frau da drüben?«, fragte Winkens. »Gehört
die zu Ihnen?«
»Das ist Anna«, sagte van de Loo. »Anna Lechtenberg.«
»Anna Lechtenberg?« Van de Loo sah, wie sich Winkens’ Gesicht
veränderte. »Das ist wirklich Anna? Sonjas Tochter?«
Winkens löste sich vom Arm seiner Frau und ging langsam auf Anna zu.
Je näher er ihr kam, umso kürzer wurden seine Schritte. Als er vor ihr
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