Falsche Väter - Kriminalroman
stand,
breitete er für einen Augenblick die Arme aus, als wollte er sie umarmen. Dann
besann er sich, fasste Anna an den Oberarmen, hielt sie fest und schaute sie
lange an. Es sah aus, als würde er sie eingehend prüfen. Sein Kopf bewegte sich
langsam hin und her. Van de Loo hatte den Eindruck, dass Winkens sehr zufrieden
war mit dem, was er sah.
»Was ist das für eine Anna?«, fragte Frau Winkens streng.
»Anna Lechtenberg«, wiederholte van de Loo. »Sie kannte Theo
Grossmann ziemlich gut.«
»Hübsches Mädchen«, sagte Frau Winkens. »Irgendwie anders als die
meisten jungen Dinger heutzutage.«
Van de Loo sagte nichts. Er sah, wie Johannes Winkens mit Anna
redete. Er hatte nicht das Gefühl, dass es ihr unangenehm war. Sie wirkte
entspannt und lachte zwischendurch sogar ein paarmal. Winkens zeigte sich
offenbar von seiner besten Seite, während seine Frau sich krampfhaft bemühte,
ein Gespräch in Gang zu bringen. Sie sprach van de Loo erneut auf die
schrecklichen Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche an, aber er ging
nicht darauf ein. Das Thema hing ihm allmählich zum Hals heraus, und er war
erleichtert, als Johannes Winkens endlich mit Anna zurückkam.
»Und Sie kümmern sich jetzt um meinen alten Freund Thomas
Schelling?«, wandte sich Winkens an ihn.
»Werde ich«, sagte van de Loo. »Und natürlich auch um den Mord an
Hubert Moelderings.«
»Das ist gut«, sagte Winkens.
»Sind Sie sich da sicher?«, fragte van de Loo.
»Absolut!«
Das Ehepaar Winkens verabschiedete sich und verließ den Friedhof.
»Was hat er von dir gewollt?«, fragte van de Loo.
»Er wollte mich ein wenig näher kennenlernen«, sagte Anna. »Herr
Winkens ist wirklich ein netter Mensch.«
»Kanntest du ihn?«
»Nein, aber er hat mir erzählt, dass er ein guter Freund von Onkel
Theo war und wir uns begegnet sind, als ich noch ein kleines Kind war. Er hat
mir Komplimente gemacht und gesagt, ich sei schön und Mama wie aus dem Gesicht
geschnitten. Er hat mir Glück gewünscht und gesagt, ich solle so weitermachen.
Außerdem hat er mir Geld zugesteckt.«
»Wie viel?«
»Fünfhundert Euro.«
»Fünfhundert Euro?«, fragte van de Loo nach. Es war genau der
Betrag, den Theo Grossmann jeden Monat an Hubert Moelderings überwiesen hatte.
»Was hat er dafür verlangt?«
»Nichts. Er hat mir das Geld einfach so gegeben.«
»Einfach so gibt es nicht«, sagte van de Loo. »Alles hat seinen
Grund.«
»Und was ist der Grund?«
»Das kann uns sicher deine Mutter sagen. Wir fahren jetzt zu ihr.«
»Das möchte ich nicht«, sagte Anna.
»Und warum nicht?«
»Weil ich mich schäme. Ich hab sie im Stich gelassen.«
»Vielleicht siehst du das falsch. Meiner Meinung nach hat sie dich
im Stich gelassen.«
»Mama ist krank!«
»Krankheit entschuldigt nicht alles. Sie könnte einen Entzug oder so
etwas machen. Auch dir zuliebe.«
»Das schafft sie allein nicht!«
»Dann müssen wir ihr eben helfen«, sagte van de Loo. »Ich muss sie
ein paar Dinge fragen, nicht nur wegen der Sache von vorhin. Ich brauche
Antworten, sonst komme ich nicht weiter, und wir erfahren nie, wer deinen Onkel
umgebracht hat.«
»Ich habe Angst«, sagte Anna leise.
»Vor wem?«
»Vor Mama. Und vor dem, was alles noch kommt«, sagte Anna. »Ich habe
das Gefühl, dass das alles irgendwie mit mir zu tun hat. Nicht nur der Tod von
Onkel Theo. Dabei habe ich doch gar nichts getan!«
* * *
Krefeld war einmal eine reiche Stadt gewesen, eine »Stadt wie Samt
und Seide«, aber die Zeiten hatten sich geändert. Jetzt wurde die Seide
irgendwo anders hergestellt, und auch der internationale Fußball wurde anderswo
gespielt. Dennoch hatte die Stadt etwas, was andere Städte nicht hatten. Es war
schwer zu beschreiben. Van de Loo nannte es das »Krefelder Gefühl«. Es hatte
mit Trotz zu tun und stand den Bewohnern in die Gesichter geschrieben. Auf dem
Markt war es zu sehen. In den Auslagen der Geschäfte. Wer in Krefeld lebte,
musste ein Kämpferherz haben, sonst war er verloren.
Van de Loo fuhr über den Ring, an mächtigen, alten Bäumen vorbei.
Anna hatte auf der Fahrt geschwiegen, ihre Headphones aufgesetzt und die Augen
geschlossen. Sie wollte nicht in ihr altes Leben zurück, das sie vor knapp zwei
Monaten hinter sich gelassen hatte, und sträubte sich dagegen, dass van de Loo
ihrer Mutter begegnete.
Er fuhr zuerst zu Sonja Lechtenbergs Wohnung. Es gab kein
Klingelschild mit ihrem Namen, kostenlose Wochenzeitungen verstopften die
Briefkästen. Anna
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