Falsche Väter - Kriminalroman
dem Sofa sitzen, Whiskey trinken und über Gott
und die Welt reden konnte. Über Mädchen, Autos, Fußball. Er wäre jetzt
einundzwanzig. Sie würden bestimmt ein Thema finden. Wahrscheinlich hätte er
sein Abitur in der Tasche und wüsste nicht recht, was er studieren sollte.
Winkens musste an die Begegnung mit Anna denken. Er hatte ihre
Gestalt klar vor Augen, die schneeweißen Zähne, ihre leuchtenden Augen und das
ovale Gesicht, umrahmt von blondem Haar. Auf dem Friedhof war ihm die
frappierende Ähnlichkeit mit Sonja aufgefallen, und er hatte vergeblich nach
Spuren von sich selbst gesucht. Der Gedanke, dass sie seine Tochter sein
konnte, hatte ihn für Augenblicke traurig gemacht, und er hatte sich bestürzt
gefragt, warum er in all den Jahren keinen Kontakt zu ihr aufgenommen hatte. Er
hatte sich geschämt, und deshalb hatte er ihr fünfhundert Euro in die Hand gedrückt.
Aber jetzt, in diesem Augenblick, schämte er sich noch mehr, zu einer so
billigen Entschuldigung gegriffen zu haben.
Anna war nicht seine Tochter, davon war er fest überzeugt. Aber ein
Kind hätte er tatsächlich haben können. Damals hatte er geglaubt, es sei zu
früh, hatte gedacht, es später nachholen zu können, und war mit Helga zu einem
Arzt nach Holland gefahren. Er hatte ja nicht wissen können, dass sie danach
nie wieder Kinder bekommen konnte. Natürlich nicht! Er machte sich auch keine
Vorwürfe deswegen. Helga hatte die Holland-Geschichte anscheinend verdrängt,
und er war ihr treu geblieben. Sie waren eine Einheit, ein eingespieltes Team.
Und sie führten eine kinderlose, unglückliche Ehe.
»Es war ein Fehler, Helga«, murmelte er. »Wir hätten nicht nach
Holland fahren dürfen! Und mein zweiter Fehler war die Annakirmes.«
Sie hatten sich in einem der Zelte maßlos betrunken und waren
irgendwann auf das Kinderkarussell gestiegen. Er hatte in der Feuerwehr
gesessen und wie ein Verrückter die Glocke betätigt. Hubert Moelderings hatte
auf einem Pferdchen gehockt, und die beiden anderen hatten sich in einen
Sportwagen gequetscht. Der Betreiber hatte protestiert, aber sie hatten sich
nicht abhalten lassen, waren grölend im Kreis gefahren, immer nur im Kreis. Es
war herrlich gewesen, und anschließend waren sie zurück ins Festzelt gegangen
und hatten weitergetrunken. Und später, als es darum gegangen war, wer von
ihnen zurückfahren sollte, hatte Winkens Thomas Schelling reingelegt. Es hatte
eigentlich ein Scherz sein sollen, aber Thomas war so blöd gewesen, auf den
alten Trick mit den abgebrochenen Streichhölzern hereinzufallen. Und dann
hatten sie ihn fahren lassen.
»Verdammt, Schelling! Du hättest besser aufpassen müssen!«, fluchte
Winkens. »Du bist der Fahrer gewesen, nicht ich! Ich hätte besser reagiert.
Aber du warst es! Von mir stammt nur die Idee der Wiedergutmachung.«
In den folgenden Wochen hatte er die Sache mit Sonja eingefädelt. Er
wusste, dass sie gefährdet war, und ahnte, dass sie der Aussicht auf finanzielle
Sicherheit, die ihr die vier Studienfreunde garantierten, nicht widerstehen
konnte. Er hatte sie in die Hütte eingeladen, und sie war gekommen. Er hatte
ihr alles erklärt. Sie hatte sich auf das Spiel eingelassen und mit jedem von
ihnen geschlafen. Es hatte tatsächlich funktioniert. Sonja war schwanger
geworden, und sie hatten für das Kind gezahlt, die ganzen Jahre über, und jedes
Mal, wenn Winkens das Geld für Anna überwiesen hatte, war er sich sicher
gewesen, dass das Bündnis des Schweigens halten und die Geschichte mit dem
Unfall ihr Geheimnis bleiben würde. Bis er den großen Fehler gemacht und den
Streichholztrick verraten hatte. Ob Theo und Hubert noch am Leben wären, wenn
er den Mund gehalten hätte?
Winkens nippte gedankenverloren an seinem Whiskey. Und ganz
unvermutet fiel ihm ein, dass er nicht mehr lange warten musste. In knapp
achtzehn Stunden würde abgerechnet werden. Dann war die große Stunde der
Vergeltung gekommen, und er würde wieder einmal in der Menge triumphieren.
Er stand auf, hob das Glas und leerte es auf das Wohl der nahen
Zukunft. Dann schlich er sich wieder ins Bett zurück.
* * *
Endlich fand Carsten Peters Zeit, sich um Anneliese zu kümmern. Am
Abend zuvor hatte er eine Maus besorgt. Er hatte sie sofort verfüttern wollen,
aber es war schon spät gewesen, und Anneliese fraß nur bei Tageslicht. Die
Futtermaus hatte die ganze Nacht in dem kleinen Karton hocken müssen, und
Peters war erleichtert, dass sie noch am Leben war. Allerdings hatte
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