Falscher Ort, falsche Zeit
alt und selber wieder zu Kindern. Man erkennt zum ersten Mal, dass es nach oben hin doch Grenzen gibt. Man steigt auf einen Hügel und muss erkennen, dass vor einem noch ein Leben liegt, dabei ist man schon fast völlig ausgepumpt.«
Die Zeit, im 72. Stock auf meinem Hintern herumzusitzen und so zu tun, als könnte ich mich vor meiner Verantwortung drücken, war vorüber. Ich ging runter auf die Straße und in gutem Tempo gen Norden nach Hause. Unterwegs dachte ich über meine Pflichten gegenüber der ahnungslosen Welt nach.
Meine Intuition sagte mir, dass es Angie und Alphonse nicht um Sex ging. Die Fotos und Details aus ihrem Leben waren intim, trugen aber keine Zeichen von Leidenschaft. Ich hatte eher den Eindruck, dass Angie wie eine Verwandte oder vielleicht sogar Tochter für ihn war, die sich aus irgendeinem Grund von dem Big Boss entfremdet hatte und danach in Schwierigkeiten geraten war. Vielleicht war der Bruch zwischen ihnen aber auch auf irgendeine Weise die Ursache ihrer Probleme.
Dabei schloss ich die Möglichkeit, dass sie Geliebte waren, nicht kategorisch aus. Und selbst wenn sie verwandt waren, konnte er ihr gegenüber böse Absichten hegen.
Das Problem war, dass ich so wenig über Rinaldo wusste. Er war ein waschechtes Rätsel des 21. Jahrhunderts. Niemand konnte einem sagen, was er tat oder wo in der Befehlskette er stand. Ich habe nur wenige Menschen getroffen, die überhaupt je von ihm gehört hatten.
»Rinaldo?«, hatte Hush, der Killer im Ruhestand, gesagt, als ich ihn gefragt hatte. »Ja. Ich hab ein paar Mal für ihn gearbeitet.«
Vom Alter von fünfzehn Jahren bis zu seinem Ruhestand bestand die einzige Arbeit, der Hush je nachgegangen war, aus Mord.
»Aber es ist komisch«, sinnierte der Auftragskiller weiter. »Ich habe ihn nie persönlich getroffen. Er war einer der wenigen Kunden, denen ich nicht in die Augen geblickt habe.«
»Warum nicht?«, fragte ich. Wir saßen an einem Dienstagabend spät in meinem Büro. Ich trank Wild Turkey, während Hush an einem Glas lauwarmem Leitungswasser nippte.
»Du kannst den Kardinal in seinem Osterornat anpissen, aber wenn der Busch brennt, senkst du lieber den Kopf und betest.«
Als mir diese Worte, vorgetragen in Hushs tiefem Bass, wieder einfielen, blieb ich mitten im Fußgängerstrom auf dem Broadway stehen. Ich war verrückt genug, mit einem bezahlten Killer befreundet zu sein – aber jetzt auch nur daran zu denken, einen Mann auszuleuchten, den selbst Hush fürchtete … da musste ich einfach stehen bleiben und lachen.
»Was ist denn mit dir los, Alter?«, fragte irgendjemand.
Er stand hinter mir, ein junger Schwarzer in einer Kluft, die ich nur als modernen Isaac-Hayes-Look beschreiben kann: hellbraunes Leder von Kopf bis Fuß, Hut und Schuhe, Hose und Weste und natürlich die offene Jacke. Das Einzige an dem jungen Mann, das nichtaus Rindsleder bestand, war ein goldenes Medaillon aus kunstvoll verzierten Buchstaben, die ein Wort ergaben, das ich nicht lesen konnte.
»Was ist, Bro?«, fragte ich ihn im anerkannten Dialekt der Straße.
Er war größer als ich, natürlich, hatte hellere Haut. Das Braun seiner Augen war unnatürlich hell. Wahrscheinlich trug er zur Abrundung seiner Erscheinung Kuhhaut-Kontaktlinsen.
Die künstlichen Augen musterten mich von oben bis unten, sahen meine vernarbten Hände und die kräftigen hängenden Schultern. Er erblickte in mir das unbewegliche Objekt – auch wenn er den physikalischen Begriff vielleicht nicht kannte. In seinen falschen Augen las ich, dass er nicht zum ersten Mal ausgebremst wurde.
»Ich hätte dich beinahe umgerannt, Mann«, sagte er, seiner Wut nur noch mit gezügelter Streitlust Ausdruck verleihend.
Ich sah ihn einfach an. Jedes Wort meinerseits hätte Handgreiflichkeiten nach sich gezogen, also überließ ich es ihm. Ich war bereit, in den Krieg zu ziehen – das bin ich fast immer. Ich habe es im Nahkampf durch die Kindheit geschafft, damit bin ich am Leben geblieben.
Der junge Mann in Leder musterte mich weiter.
Schließlich sagte er »Leck mich« und ging um mich herum. Nach einer Weile setzte auch ich meinen Weg fort und dachte, dass er schlauer war als ich.
Er wusste, wann man einem Hindernis ausweichen musste.
15
Um drei Uhr stand ich vor meiner Haustür – um 15.01 Uhr, um genau zu sein.
In meiner gelben Tasche kreischte die Hyäne. Das war natürlich Detective Kitteridge. Ich hätte in seinem Büro sein sollen. Ich schätzte, er erwartete, dass ich den
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