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Falscher Ort, falsche Zeit

Falscher Ort, falsche Zeit

Titel: Falscher Ort, falsche Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Mosley
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ist die Bäckerei, und ich schreibe Ihnen auch meine E-Mail-Adresse auf.«
    »Haben Sie keinen Festnetzanschluss?«, fragte ich.
    »Nein. Nur das Handy.«
    Er gab mir und meiner Frau die Hand. Katrina brachte ihn zur Tür.
    Ich blieb sitzen und fragte mich, ob ich schon in Rente wäre, wenn wir im siebzehnten Stock wohnen würden.

16
    Meine Gedanken verschmolzen langsam mit dem Schmerz hinter meinem Auge. Ich presste den Daumen gegen die Stirn, und der Schmerz wurde circa drei Dezibel schwächer.
    »Leonid«, sagte Katrina.
    Die Kopfschmerzen flammten wieder auf.
    »Ja?«
    »Was ist?«
    »Nichts. Bloß ein Zucken.«
    »Ich hatte gehofft, wir könnten reden«, sagte sie und ließ sich auf dem Stuhl neben mir nieder.
    »Ich schwöre, Dimitri geht es gut«, sagte ich. »Wenn er Ärger hat, dann mit Frauen. Und den suchen junge Männer schon, seit Felle in Mode waren.«
    »Über uns.«
    »Was ist mit uns?«, fragte ich und wunderte mich über die Helligkeit meines Schmerzes.
    »Ich bin jetzt seit mehr als einem Jahr zurück, Leonid.«
    »Ja?«
    »Und du bist immer noch so … distanziert.«
    Da sah ich meine Frau an. Sie war einundfünfzig Jahre und ein paar Monate alt, doch regelmäßiges Training, Wellness-Behandlungen und kleinere Schönheitsoperationen hatten den größten Teil ihrer jugendlichen Schönheit bewahrt. Und diese geschürzten roten Lippen konnten im Dunkel der Nacht die schmutzigsten Sachen flüstern.
    Es war lange her, dass diese Lippen in der Nähe meines Ohres gewesen waren.
    »Es liegt nicht an dir, Katrina«, sagte ich. »Es ist, es ist … man liest doch manchmal von Männern, die eine Midlife-Crisis durchmachen, weißt du?«
    »Ja.«
    »Ich stecke in einer verdammten lebenslänglichen Katastrophe. Das Schiff ist gesunken, und ich sehe weiße Haiflossen auf mich zu kommen.«
    »Das verstehe ich nicht«, sagte sie.
    »Siehst du diese Hände?«, fragte ich und hielt meine Pranken hoch.
    »Ja?«
    »Sie sehen ganz normal aus, oder? Einfach ein Paar großer Hände an einem kräftigen Mann. Aber wenn man genau hinsieht, kann man das Blut erkennen, das daran klebt. Blut und Scheiße und, und Maden, die zu Fliegen werden. Ich wasche sie jeden Abend, und jeden Morgen sind sie wieder schmutzig.«
    »Ist es, weil ich dich wegen Andre verlassen habe?«, fragte sie.
    »Nein, Baby, nein. Das ist der Schmutz, der an dir klebt. Deine eigene Schuld.«
    »Warum hast du mich zurückgenommen, wenn du mich nicht liebst?«
    »Weil du mich um Verzeihung gebeten hast.«
    »Aber du hast mir nie verziehen.«
    Der Schmerz durchbrach irgendeine Grenze und war jetzt hinter beiden Augen. Ich ließ mein Gesicht in die Hände sinken und grunzte.
    So verharrte ich ein oder zwei Minuten. Als ich den Kopf wieder hob, war Katrina verschwunden.
     
    Im Medizinschrank bewahrte ich drei Schmerztabletten mit Kodein auf, die ein Zahnarzt mir gegeben hatte, nachdem mir ein Zahn gezogen worden war. Ich nahm eine und setzte mich bei heruntergelassenen Jalousien, ausgeschaltetem Licht und mit geschlossenen Augen auf den Stuhl in meinem Arbeitszimmer.
    Siebenunddreißig Minuten später, der Timex meines Vaters, seiner einzigen materiellen Hinterlassenschaft, nach, öffnete ich die Augen.
    Der Schmerz war immer noch da, fühlte sich aber an, als wäre er ins Nebenzimmer geschickt worden. Ich spürte ihn drängend und glühend rot durch die Wand. Aber ich konnte wieder denken. Wegen des Medikaments konnte ich mich konzentrieren.
     
    Ich bewahrte Ron Sharkeys Akte in einem verschlossenen Aktenschrank neben meinem Schreibtisch auf. Sie war ziemlich dick und reichte zurück bis in die Zeit, in der er wegen der von mir getürkten Beweise zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war.
    Ich schlug die erste Seite auf, merkte jedoch, dass Grübeleien über Sharkey im Augenblick nur die brüchige Wand einreißen würden, die das Medikament errichtet hatte. Stattdessen nahm ich eine Aktenmappe aus Rinaldos Koffer, die ich noch nicht durchgeblättert hatte. Sie trug die Aufschrift VERWANDTE & BEKANNTE .
    Sie enthielt vierzehn einzeilig getippte Seiten, die meisten mit einem angehefteten Foto; detaillierte Dossiers über Angies Freunde, Verwandte und Alltagsbekanntschaften.
    Als ich die Seiten durchblätterte, wurde das Gefühlder eigenen Entwurzelung noch akuter, als hätte das Kodein im Augenblick meiner tiefsten Entfremdung angeschlagen.
    Ich konzentrierte mich auf die Berufe der Personen und entschied mich für eine, die ich um diese Tageszeit am

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