Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falscher Ort, falsche Zeit

Falscher Ort, falsche Zeit

Titel: Falscher Ort, falsche Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Mosley
Vom Netzwerk:
wahrscheinlichsten antreffen würde. Ich studierte ihre Geschichte und ihre Gewohnheiten, ihre Beziehung zu Angie und das Foto, das ohne ihr Wissen gemacht worden war.
     
    »Leonid«, sagte Katrina, als ich gerade aus der Tür treten wollte.
    »Ja?« Ich versuchte, freundlich und offen zu klingen.
    Sie hatte ein beigefarbenes Kleid angezogen, das ihre Figur betonte. Katrinas Figur war eine Augenweide für jeden Mann von zwölf bis hundertzwölf. Der Saum des Kleides reichte bis zu ihrer Wade, und der runde Ausschnitt war gerade tief genug.
    »Was ich über Mardi gesagt habe, tut mir leid. Es ist wirklich sehr nett von dir, dass du ihr helfen willst.«
    »Das ist typisch Twill«, sagte ich. »Er wusste, dass das Mädchen einen Job brauchte, um ihre kleine Schwester zu versorgen, und ich jemanden, der den leeren Platz meiner Empfangssekretärin besetzt. Seine Sozialarbeiterin hat gesagt, er könnte Präsident werden, wenn er kein Strafregister hätte.«
    Normalerweise liebte es Katrina, über die Tugenden ihrer Kinder zu sprechen. Aber an diesem Nachmittag ließ sie sich nicht ablenken.
    »Bemühst du dich wenigstens, und wirst du dich weiter bemühen, mit mir zu reden?«, fragte sie.
    Diese Frage war ein weiterer Test. Nein … eine Abschlussprüfung.
    Anfangs stand ich schon zur Tür gewandt und hatte nur den Kopf in Katrinas Richtung gedreht. Doch nun machte mein Körper eine Wendung um volle hundertachtzig Grad, um mich ihrer aggressiven Frage frontal zu stellen. Ich hätte mich entschuldigen und sagen können, dass ich mich bemühen würde. Aber welchen Unterschied hätte das gemacht? Sie würde nicht gehen, und ich auch nicht.
    »Was, wenn ich dir erzählen würde, dass ich mich von hinten an einen Mann angeschlichen und ihn mit einem Kopfschuss erledigt habe?«, fragte ich. »Dass ich ihn blutend und mit einem Loch im Hirn in einer dunklen Gasse habe liegen lassen? Was, wenn ich dir von einer trauernden Witwe und drei kleinen Kindern ohne Vater, Lebensversicherung oder Freunde erzählen würde, die ihnen helfen könnten? Sind das die Geschichten, die du hören willst, Katrina? Willst du das mit mir teilen?«
    Meine Worte waren ebenso wahr wie metaphorisch. Ich hatte nie gemordet. Aber ich hatte trotzdem ganze Familien zerstört.
    Katrina hatte mich auf die Probe gestellt, als ich das Haus verlassen wollte, um unser Essen und die Miete zu verdienen. Anstatt die Prüfung zu absolvieren, hatte ich ihr meinerseits etwas zum Grübeln gegeben.
    Sie sah mich an und verzog das Gesicht. Über ihr schwebte die graue Wolke meiner Kopfschmerzen, irgendeine verlorene Seele, die mich aus Gründen verfolgte, die in den Augen meiner Frau Angst aufblitzen ließ.
    »Du solltest gehen«, sagte sie. »Wir können später darüber reden.«
     
    Als Boxer, selbst wenn man wie ich nur Amateur ist, lernt man mit den Manifestationen von Schmerz und Erschütterung zu leben. Auf der Straße zum Central Park schleppte ich meine Migräne und die durch die Droge hervorgerufene Spaltung meines Bewusstseins hinter mir her wie die Ketten einer lebenslangen Knechtschaft. Deswegen wurde der Boxsport so lange von Schwarzen dominiert. Wir haben vom Tag unserer Geburt an trainiert.
    Ich betrat den Park an der 86 th Street und folgte meiner gewohnten Route, ein wenig abseits der ausgetretenen Pfade und meistens ruhig. Ein paar Teenager saßen kiffend auf einem Felsen, und ein Liebespaar, das ich hörte, aber nicht sah, erreichte einen nur teilweise unterdrückten Höhepunkt, als ich vorbeikam.
    Fast am anderen Ende des Parks kam mir ein großer Weißer in zerlumpter Kleidung entgegen.
    »Gib mir einen Dollar, Mann«, sagte er.
    Er hatte geheimnisvolle Tätowierungen auf den Händen, im Gesicht und wahrscheinlich auch auf dem Rest seines Körpers; alte blaue, rote und gelbe Flecken, die langsam verblassten und ausliefen.
    »Wie meinen?«, fragte ich.
    »Ich sagte, gib mir einen Dollar. Und mach schnell, bevor ich fünf verlange.«
    »Ich sag dir was, Arschloch. Komm und hol ihn dir.«
    »Ich hab ein Messer«, warnte er mich.
    Ich musste unwillkürlich lächeln.

17
    Ich verließ den Park, ohne zu körperlicher Gewalt greifen zu müssen. Der große Weiße wusste mein Lächeln zu lesen, so wie Barack Obama die Herzen des amerikanischen Volkes zu lesen weiß.
    Eine neue Generation war an der Macht. Die alte Einschüchterungspolitik mit ihrer Verbreitung von Angst und Schrecken war einer Art von Diplomatie gewichen … einer Diplomatie mit

Weitere Kostenlose Bücher