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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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hatten.
    »Sie wissen gar nichts über mich«, sagte Tonio, »nichts dar-
    über, wo ich herkomme oder warum ich hier bin. Und ich werde nicht hier stehen und Ihnen zuhören, wie Sie davon sprechen, als wären es ganz gewöhnliche Dinge! Sie werden nicht im selben Ton darüber reden, in dem Sie auch Ihre Schüler tadeln. Sie werden Ihre Besorgnis nicht in derselben Weise äußern, als handle es sich lediglich um den Mißerfolg einer Oper oder den Tod eines Monarchen in einem fernen Land!«
    »Ich habe nicht die Absicht, leichthin darüber zu sprechen«, beharrte der Maestro. »Um Himmels willen, hör mir doch zu!
    Schick andere Männer, um diese Tat zu vollbringen! Schick Männer, die ebenso unbarmherzig sind wie diejenigen, die ihn beschützen. Diese Bravos sind ausgebildete Attentäter, schik-ke jemanden, der ist wie sie.«
    Tonio wollte sich aus dem Griff des Maestros befreien, aber er war nicht imstande, die Hand gegen den Maestro zu erheben.
    Bravos, dieser Mann erzählte ihm etwas von Bravos! War er nicht oft genug in der Nacht hochgefahren, um sich wieder in Flovigo wiederzufinden, im Kampf mit jenen mitleidlosen und grausamen Männern? Er konnte immer noch ihre Hände spü-
    ren, er konnte ihren Atem riechen, er konnte sich an seine Wehrlosigkeit erinnern und an das Messer. In seinem ganzen Leben würde er das niemals mehr vergessen.
    »Tonio, vielleicht irre ich mich auch«, sagte der Maestro, »und du hast bereits Attentäter geschickt, die gescheitert sind.
    Wenn das der Fall sein sollte, dann ist dir doch sicher klar, daß du es allein erst recht nicht schaffen kannst.«
    Der Maestro hatte seinen Griff gelockert, aber Tonio war jetzt erschöpft. Er sah weg. Selten hatte er sich seit jenen frühen Tagen einsamer gefühlt. Er konnte sich nicht mehr an alles erinnern, was eben gesagt worden war, denn seine Verwirrung hatte vieles davon ausgelöscht. Lediglich das Gefühl, daß der Maestro, der sich einbildete, alles zu verstehen, obwohl er doch so wenig begriff, immer und immer weiterreden würde, war geblieben.
    »Wenn du irgendein gewöhnlicher Sänger wärst...« Der Maestro seufzte. »Wenn du nicht eine Stimme besitzen würdest, von der alle träumen, dann würde ich sagen, tu, was du tun mußt.«
    Er ließ Tonio jetzt los. Seine Hand fiel schlaff herunter.

    »Ach, ich muß mir Nachlässigkeit vorwerfen«, sagte er, »weil ich erst jetzt versucht habe, dich zu verstehen. Du hast hier einen so zufriedenen, so glücklichen Eindruck gemacht.«
    »Und war es etwas so Außergewöhnliches, daß ich zufrieden war?« wollte Tonio wissen. »War es so falsch, Glück zu empfinden? Glauben Sie denn, man hat mir mit allem anderen auch die Seele aus dem Leib geschnitten?
    Sie haben zu lange über dieses Fürstentum von Kastraten geherrscht, ohne je dazuzugehören. Sie haben vergessen, wie das Leben ist! Glauben Sie denn, die ganze Welt besteht aus verstümmelten Kreaturen, die blutend ihres Weges ziehen, um ihrer Bestimmung zu folgen! Das ist nicht das Leben!«
    »Deine Stimme ist dein Leben! Sie ist dein Leben gewesen, seit du hierherkamst! Willst du behaupten, ich wäre blind und taub?« beschwor ihn der Maestro.
    »Nein.« Tonio schüttelte den Kopf. »Das ist Kunst, das ist die Bühne mit ihren Kulissen, die Musik und die kleine Welt, die wir uns geschaffen haben, aber das ist nicht das Leben! Wenn Sie jetzt mit mir über meinen Bruder reden wollen, über das, was man mir angetan hat, dann müssen Sie über das Leben reden. Und ich sage Ihnen, daß das, was man mir angetan hat, gerächt werden muß. Jeder Mann dort draußen auf der Straße würde das verstehen. Warum fällt Ihnen das so schwer?«
    Der Maestro war nachdenklich geworden, aber er gab nicht nach.
    »Du sprichst nicht vom Leben, wenn du nach Venedig gehst, um deinen Bruder zu töten«, flüsterte er. »Du sprichst vom Tod, und es wird nicht sein Tod sein, sondern der deine. Ach, wenn du doch nur einer von den anderen wärst. Wenn du doch nicht wärst, was du bist.«
    »Ich bin nur ein Mann.« Tonio seufzte. »Das ist alles, was ich bin. Das ist es, wozu ich geboren bin und was ich geworden bin, ganz gleich, was man getan hat, um es zu verhindern.
    Und ich sage Ihnen, ein Mann würde das, was man mir angetan hat, nicht hinnehmen.«
    Der Maestro wandte sich ab. Er rang um Fassung, und in dieser Zeit senkte sich eine eisige Stille über den Raum. Tonio lehnte sich erschöpft gegen die Wand und sah dabei wieder den Kreuzgang und jene grünen Blätter

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