Fame Junkies
hatte panische Angst, dass irgendetwas Entsetzliches passieren könnte, bevor ich sie wohlbehalten bei Carla abgeliefert hatte. Ein Erdbeben, das New York erschütterte und mich unter Trümmern begrub, ein Softwarefehler, der die Fotos aus dem Speicher löschte. Aber nichts davon trat ein – natürlich nicht. Carla erwartete mich sogar mit einem Regenschirm am Straßenrand, weil ich sie vom Taxi aus angerufen und mich angekündigt hatte. Als ich die kleine, mollige Frau sah, die mir lächelnd zuwinkte, war ich wieder einmal von ihrer alterslosen Erscheinung verblüfft. Wenn mich jemand auffordern würde, ihr Alter zu schätzen, würde ich irgendeine Zahl zwischen sechzig und achtzig nennen, aber die Jahre sind ihr kaum anzusehen. Sie hat genug Energie, um eine Kleinstadt monatelang mit Strom zu versorgen.
Sobald ich aus dem Taxi stieg, kam sie mit dem Regenschirm auf mich zugelaufen und wir rannten kichernd wie zwei kleine Mädchen, die gerade eine Tüte Bonbons ergattert hatten, in ihr Büro hinauf, wo es wie immer nach einer Mischung aus Chanel No . 5 und kaltem Zigarettenrauch roch. Ich stellte mich hinter sie und sah über ihre Schulter gebeugt zu, wie sie die Bilder auf ihren Computer lud. Erleichtert atmete ich aus. Jetzt konnte nichts mehr passieren. Carla scrollte zu dem entscheidenden Bild vor, stieß einen lauten Jubelschrei aus und sprang auf, um mich zu umarmen.
Eine Minute später saß sie – wieder ganz die professionelle Agentin – am Schreibtisch und rief nacheinander die Chefredakteure der wichtigsten Zeitschriften an. Mein Foto war so heiß, dass sie es auf keinen Fall auf ihre Website stellen, sondern persönlich mit den Interessenten verhandeln wollte.
Und dann begann das Wettbieten.
Als ich ihr Büro zwei Stunden später verließ, hatte ich mein erstes Titelfoto an das People Magazine verkauft.
Und genug Geld auf dem Konto, um mein erstes Studienjahr zu finanzieren.
Obwohl ich mich ehrlich gesagt fragte, wozu ich jetzt überhaupt noch studieren sollte.
***
Es war Abendessenzeit, als ich atemlos in die Küche platzte. Meine Mutter steckte noch in ihren weißen Praxisklamotten und telefonierte. Ich machte ihr aufgeregt Zeichen aufzulegen, aber sie bedachte mich nur mit einem finsteren Blick und wandte mir dann den Rücken zu. »Sie ist gerade nach Hause gekommen.« Ihre Stimme klang gepresst. »Ja natürlich … ich werde das gleich mit ihr klären. Vielen Dank, dass Sie mich informiert haben.«
»Mom, du glaubst nicht, wa s …«
»Das war Mrs Balkan, eure Schulsekretärin«, unterbrach sie mich scharf. »Würdest du mir bitte erklären, weshalb du heute nicht in der Schule warst?«
»Oh … äh, also morgens war ich schon kurz da«, sagte ich. »Aber dann musste ich dringend weg.«
Meine Mutter verschränkte die Arme und zog eine Augenbraue hoch – ihre Art mir mitzuteilen, dass sie eine sofortige Erklärung verlangte.
Die konnte sie haben. Sehr gerne sogar.
»Ich hatte echt einen guten Grund, Mom. Clara hat mich vor ein paar Tagen angerufen, weil sie gehört hatte, dass Naomi Fine schwanger ist. Ich hab mich an die Geschichte drangehängt und es tatsächlich geschafft, heute ein paar Fotos vo n …«
»Wie bitte? Du hast die Schule geschwänzt, um Fotos zu machen?« Moms Stimme klang so fassungslos, dass ich sofort wusste: Sie war stinksauer.
»Ja, abe r …«
Sie schüttelte den Kopf und winkte ab, als würde sie meine Erklärung gar nicht interessieren. »Was soll ich bloß mit dir machen?« Sie sah zur Decke, als würde sie eine höhere Macht um Hilfe anrufen. »Na los, Jamie. Sag du es mir! Muss ich dir die Kamera wegnehmen? Dich in deinem Zimmer einsperren? Ich habe dieses alberne Spiel so unendlich satt. Du bist keine Fotoreporterin! Du bist nichts weiter als ein Schulmädchen, das einmal das Glück hatte, zufällig im richtigen Moment auf den Auslöser zu drücken. Aber diese dämliche Zeitschrift musste dich ja gleich zum Wunderkind erklären, um eine Story daraus zu machen. Und seitdem lebst du in einer Fantasiewelt und bildest dir ein, du wärst erwachsen und hättest einen Job. Dabei bist du fast noch ein Kind, Jamie – nur dass du statt mit Barbiepuppen zu spielen Starfotografin spielst. Aber du bist keine Starfotografin. Du bist nur ein Mädchen mit einer Kamera. Siehst du denn nicht, dass das etwas ganz anderes ist?«
Es wurde still in der Küche. Eigentlich hätte ich jetzt ausflippen und ihr vorwerfen müssen, dass sie mich nicht ernst nahm. Aber
Weitere Kostenlose Bücher