verschlechterte sich extrem, nachdem ich das Angebot bekommen hatte, bei Rich and Poor mitzumachen. Das war so eine Realityshow über New Yorker Jugendliche, vielleicht erinnern Sie sich noch daran? Es gab mehrere Staffeln davon. Ich hätte zwar zwei Monate lang mit der Schule aussetzen müssen, aber die Produzenten hatten Privatlehrer engagiert, die den Stoff mit uns durchgegangen wären. Kennen Sie Brad Cox, der in der Nickelodeon-Serie Dave in Deep mitspielt? Seine Karriere hat damals mit Rich and Poor angefangen, genau in der Staffel, in der ich auch hätte mitmachen sollen. Jetzt ist er einer der größten Teen-Stars.« Er wird bitter auflachen. »Tja, das hätte ich sein können.«
Die Erinnerung daran scheint Avy immer noch wütend zu machen. Er wird sich mit fahrigen Bewegungen eine Zigarette anzünden.
»Ich brauchte natürlich die Erlaubnis meiner Eltern, um mir zwei Monate Auszeit von der Schule zu nehmen. Aber jeder Versuch, vernünftig mit ihnen darüber zu diskutieren, war zwecklos. Ich bettelte, flehte, brüllte und knallte Türen. Das ging tagelang so. Sie verstanden einfach nicht, wie wichtig mir das war. Ihr Sohn ein Schauspieler? Um Gottes willen! Ihr Sohn als Teilnehmer in einer Realityshow? Der Super-GAU! Meine Eltern sind Snobs, für die ist jede Form von Reality-TV Billigunterhaltung für bildungsferne Schichten. Sie wollten, dass ich nach der Schule an einer Eliteuni studiere und danach die Karriere mache, die sie sich für mich erträumten. Beide haben hart dafür gearbeitet, die obersten Sprossen der sozialen Leiter zu erreichen. Verstehen Sie mich nicht falsch, davor habe ich großen Respekt, aber ich kann einfach nicht akzeptieren, dass sie mir ihre Lebensweise aufdrücken. In ihren Augen sind die ersten achtzehn Jahre im Leben nichts weiter als die Vorbereitung für eine erfolgreiche Bewerbung in Yale oder Harvard.«
Avy wird die Hände zu Fäusten ballen und kämpferisch das Kinn recken. Die Tatsache, dass seine Eltern ihm verboten haben, bei Rich and Poor mitzumachen, war für ihn der ultimative Verrat. Dass niemand sagen kann, was passiert wäre, wenn sie ihm die Teilnahme erlaubt hätten, spielte keine Rolle für ihn. Dabei gibt es für jeden Brad Cox Hunderte, vielleicht Tausende von ehrgeizigen Jugendlichen, deren kurzer Ausflug in die Berühmtheit als Star einer Realityshow letztlich nirgendwo hinführte.
»Haben Sie inzwischen wieder eine Beziehung zu Ihren Eltern aufgebaut?«
Avy wird sich zurücklehnen, die Arme verschränken und die Lippen aufeinanderpressen. »Wollen Sie die Wahrheit wissen? Ich habe ihnen ihr Verhalten damals nie verzeihen können. Ich … ich hasse sie.«
Er wird dasitzen und schweigend vor sich hin brüten. Dann wird er auf einmal den Kopf heben, als sei ihm eine neue Frage eingefallen. »Selbst nachdem Sie es geschafft haben, auch ohne die Unterstützung ihrer Eltern berühmt zu werden?«
Avy wird lächelnd den Kopf schütteln, sich aus dem Sessel erheben und auf die Kamera zugehen. Das Bild wird immer unschärfer und dann schwarz werden. Das Interview ist beendet. Du wirst auf den Bildschirm des MacBooks starren, während Avys letzte Worte in deinem Kopf nachhallen: Selbst nachdem Sie es geschafft haben, auch ohne ihre Unterstützung berühmt zu werden?
Warum hat er das gesagt? Avy hat keinen Erfolg gehabt. Er hat es nie »geschafft«. Bis auf ein paar wenige Auftritte in Werbespots ist er dem Erfolg nicht einmal nahe gekommen.
Und dann wird dich die Erkenntnis wie ein Blitz treffen: Das war kein reales Interview, auf das er sich vorbereitete – es war das Interview, von dem er träumte, es eines Tages geben zu können.
Dir werden wieder Tränen in die Augen schießen und in deinem Inneren wird sich alles zusammenziehen. Erschöpft wirst du den Laptop ausschalten und zuklappen.
Eine Welle aus Trauer und Selbstvorwürfen wird dich beinahe ersticken. Du hättest Avy eine viel bessere Freundin sein können. Du hättest dich mehr bemühen können, mit ihm in Kontakt zu bleiben, nachdem er nach L.A. gegangen war. Er ist dir immer ein guter Freund gewesen. Und du? Bist du ihm eine gute Freundin gewesen?
Nein. Du warst ja viel zu sehr damit beschäftigt, an dich zu denken – an dich und deine Karriere.
JAMIE
März, 10. Klasse – 4. Tag in L.A.
Von:
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[email protected]Re: Beziehungstherapie
Lieber Nasim,
danke für deine Mail (auch wenn sie ruhig ein bisschen länger hätte sein können :–)). Ich bin froh, dass es dir