Familienalbum
Weise. Wenn auch nur einem etwas zustoßen würde … Als Paul in den Klippen stecken blieb, war er außer sich gewesen. Aber er ist auch ein Mann, der die Einsamkeit braucht, das stumme Zwiegespräch mit der Sprache, mit Ideen. Aber im Moment ist ein stummes Zwiegespräch nicht im Angebot. Vor zwei Tagen hat er sich im Hotel eine halbe Flasche Whisky gekauft und sie auf einen Abendspaziergang mitgenommen. Er kam betäubt und voller Selbstekel zurück. Nein, dieser Versuchung darf er kein zweites Mal erliegen. Das führt in die Katastrophe, wie er nur zu gut weiß.
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Roger findet einen Seeschmetterling. Hurra! Er könnte Bäume ausreißen vor Freude.
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Sandra und ihr Typ machen noch einen Versuch; er fällt deutlich besser aus.
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Paul beschafft sich an einer Straßenecke Drogen.
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Clare perfektioniert ihren Flickflack, serviert Emma ab und bandelt mit Lucy an.
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Der Urlaub geht in die dritte Woche, aber für Charles besteht er aus einer ewigen Gegenwart ohne Chronologie. Da er kaum in den Genuss einer Zeitung kommt, weiß er selten, welcher Tag es ist. Das fällt auch nicht weiter ins Gewicht, im Gegensatz zum Fehlen einer Zeitung. Und mehr noch zu der Tatsache, dass er mit seiner Arbeit kaum vorankommt. Das liegt zum Teil daran, dass er kein richtiges Arbeitszimmer hat, aber offenbar auch an einem Ausbruch geistiger Lethargie leidet. Die Romantik langweilt ihn. Das vorliegende Projekt gehört zu einer Serie kurzer Einführungen in ideengeschichtliche Begriffe für Leser mit gesellschaftlichen Ambitionen; wahrscheinlich hätte er sich nie darauf einlassen oder ein anderes Thema wählen sollen. Der Faschismus hätte mehr Biss gehabt.
Wie die Dinge liegen, liest er flüchtig, findet Coleridge zäh und Wordsworth zum Wahnsinnigwerden und ist nur allzu bereit, den Rest der Romantiker nach fünf Minuten wieder zuzuklappen. Was ist los? Er ist kein oberflächlicher Leser, sondern liest normalerweise mit Hingabe, Scharfblick und absoluter Aufmerksamkeit. Das ganze Projekt war ein Fehlgriff, keine Frage, aber jetzt hat er es am Hals. Es ist ein kurzes Buch und, um ehrlich zu sein, ein unwichtiges; da muss er sich einfach hinsetzen und es hinter sich bringen.
Wozu er anscheinend nicht in der Lage ist. Tagsüber, wenn bei schönem Wetter alle unterwegs sind, ist das Haus relativ ruhig; trotzdem ist er zu keiner geistigen Anstrengung fähig. Er geht spazieren, um einen klaren Kopf zu bekommen, das ist zumindest seine Absicht; stattdessen wird ihm nur noch dumpfer im Kopf beim müßigen Beobachten von Möwen, Pflanzen, des mürrischen Meeres, das jeden Tag eine andere Stimmung zeigt – wild und windgepeitscht, still und beschaulich. Eine erbärmliche Täuschung: Das Meer ist nicht mürrisch, es ist einfach. Das kommt davon, wenn man sich in die Romantiker vertieft.
Charles ist gereizt; anders kann man seine momentane Stimmung nicht nennen. Das ist nicht weiter bemerkenswert, was er auch weiß. Jeden, der unter ähnlichen Familienumständen anderes von sich behauptete, würde er zur Rede stellen. Aber die Urlaubssituation verschärft die Lage; in Allersmead kann Charles seine Gereiztheit beherrschen, und recht oft ist er sogar völlig frei davon. Er versteht es, die Wechselfälle des Familienlebens weitgehend zu ignorieren, aber auch, wenn es angebracht erscheint, joviales Interesse aufzubringen. Hier jedoch, in diesem vom Wind durchgerüttelten Haus mit dem monströsen Mobiliar, in dem überall feiner, knirschender Sand auf dem Boden liegt (warum kehrt den keiner weg?) und vor der Hintertür Meeresfauna in Eimern wabert (er ist schon über einen gestolpert), erreicht die Latte der Schikanen neue Höhen. Alison ist wegen Paul überbesorgt und permanent nervös. Gina ist entschieden streitlustig, woran Charles an und für sich nichts auszusetzen hat, da er gern diskutiert, aber irgendwie schafft sie es immer, ihn mattzusetzen. Ihm ist bewusst, dass er dabei gelegentlich schon das Gesicht verloren hat. Bei diesem wortkargen Skandinavier braucht er sich nicht vor einem Gesichtsverlust zu fürchten, aber es hat nicht viel Sinn, seine Ansichten jemandem zu erläutern, der als einzige Antwort nur lächelt. Und Ingrid ist auf eine irritierende Weise selbstzufrieden.
Alles in allem würde Charles gern nach Hause fahren. Aber er muss die Sache aussitzen. Zuweilen wundert er sich, ob er eine Art Midlife-Crisis hat (diesen Ausdruck hat aufgeschnappt, als er einen jener von Frauen verfassten Artikel überflog, die er
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