Familienalbum
sagte Paul sotto voce zu einer weiteren Bierdose.
»Wie bitte, Paul?« Charles sprach laut und vernehmlich.
»Nichts, nichts …«
»Die Frauen haben in der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft einen recht guten Stand. Wer sich mit ihnen anlegt, ist schlecht beraten.« Charles lachte leise auf, als hätte er einen Insiderwitz gemacht.
Paul stand auf. »Wer redet hier von der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft?« Er funkelte Charles böse an, schleuderte seine Bierdose in eine offene Kiste und marschierte los, den Wall entlang.
Eine Weile herrschte Schweigen. Alison sah Charles kurz an, dann fing sie geschäftig an zu packen. Charles ließ den Blick ungerührt über Dorset schweifen. Ingrid hatte sich wieder hingesetzt, mit ausdruckslosem Gesicht. Roger hätte gern etwas gesagt, wäre gern laut in dieses Schweigen hineingeplatzt, aber ihm fiel nichts ein. Er hatte ein Gefühl, als hätte sich etwas Dunkles, Fremdes an sie herangeschlichen. Als wäre nun mitten unter ihnen noch jemand, den er nicht kannte.
*
»Zeit für den Aufbruch«, rief Alison. »Aber wo ist denn Paul ? Der Junge macht doch immer Ärger. Jetzt müssen wir einen Suchtrupp losschicken.«
Charles las Zeitung. Sandra lag auf der Decke hingestreckt und sonnte sich. Ingrid hatte sich ein wenig abseits gesetzt. Katie war in ein Buch vertieft.
»Ich gehe«, sagte Gina.
Roger sprang auf. »Ich komm auch mit.«
Sie machten sich auf den Weg, den Wall entlang; Stefan trottete ein paar Schritte hinter ihnen her. »Wir müssen am höchsten Punkt anfangen«, sagte Gina, »wo wir am meisten sehen können. Und uns nach unten vorarbeiten.«
Es waren jetzt weniger Besucher da. Sie umkreisten einmal den ganzen Hügel, ohne Erfolg. »Oje«, seufzte Gina. »Bei diesen ganzen Buckeln und Höckern kann man ihn leicht übersehen.« Sie versuchten es mit Rufen. Ihre Stimmen wurden vom Hügel verschluckt, wehten fort, nach Dorset hinein. »Ich komme mir blöd vor«, sagte Gina. »Entschuldigung, haben Sie meinen Bruder gesehen? Nein, ein Kleinkind ist er eigentlich nicht mehr.«
Sie fanden ihn in einer Mulde, flach auf dem Bauch liegend, neben leeren Bierdosen.
»Du lieber Himmel«, sagte Gina.
»Schläft er?«, fragte Stefan hilfreich.
»So kann man’s nennen.« Gina beugte sich zu ihm herunter. »He! Los jetzt – aufstehen!« Paul grunzte. »Los jetzt, Paul. Steh schon auf.«
»Verpiss dich«, knurrte Paul.
»Keine Chance. Wir fahren jetzt, und du hältst einfach die Klappe, ja?« Gina legte sich Pauls Arm um den Hals. »Okay. Und jetzt vorwärts.«
Sie stolperten den Hügel entlang. Stefan folgte mit großen Augen. »Ich glaube, dein Bruder ist vielleicht …«
»Ja«, sagte Roger mürrisch. »Ist er.«
Am Lagerplatz wurde wenig gesagt. Charles warf einen Blick auf Paul, faltete die Zeitung zusammen und stand auf. Auch Alison sah Paul an, aber viel länger, dann sagte sie künstlich munter: »Da bist du ja. Dann brechen wir jetzt auf.«
Während Paul im Auto auf dem Rücksitz schlief, entdeckte Roger, dass er Landkarten lesen konnte. Ein berauschender Moment, es war, als beherrschte er plötzlich fließend eine Fremdsprache. Charles sagte: »Ziemlich gut, Roger. Bemerkenswert gut sogar.« Mitgerissen von der Strömung seiner neuen Fähigkeit, segelte Roger in den Abend hinein und merkte gar nicht, dass Stefan gefragt hatte, ob er bitte seine Eltern anrufen könne. Es stellte sich heraus, dass Stefan morgen nach Hause fahren würde, doch auch das drang kaum zu Roger durch, ebenso wenig der einige Tage später eintreffende Brief von Stefans Eltern, die von einem Gegenbesuch Rogers Abstand nahmen. Roger war viel zu sehr mit Überlegungen beschäftigt, wie lange er sein Taschengeld würde sparen müssen, bis er ein paar Generalstabskarten kaufen könnte.
*
»Bloß weil dein Bruder besoffen war?«, fragte Susan. »Die meisten Jungs betrinken sich ab und zu.«
»Nicht nur deswegen. Ich glaube, es war die geballte Ladung Allersmead. Wir waren für einen jungen Feingeist aus Freiburg nicht zu verkraften. Ein Fall kultureller Inkompatibilität.«
Nachtgespräche
»Hi! Wo steckst du denn gerade?«
»Ich bin zu Hause«, antwortet Gina. »Paul, es ist fast Mitternacht. Nie rufst du zu vernünftigen Zeiten an.«
»Weil du dann nicht rangehst! Und zu beschäftigt bist mit der Jagd auf Nachrichten, um zurückzurufen. Oder du bist auf der anderen Seite des Globus. Okay – ich leg schon auf.«
»Bleib dran«, sagt Gina. »Zufällig bin ich noch nicht
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