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Familienalbum

Familienalbum

Titel: Familienalbum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Lively
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nachtragen ließe. Wir haben eingeräumt, dass das Liebesleben ziemlich auf Eis liegt.«
    »Sag mal, was bezweckst du eigentlich mit diesem Lebenslauf? Für Wisley ist er wohl kaum gedacht.«
    »Ah, scharfsinniger Einwand. Sollen wir es eine Art Bestandsaufnahme nennen? Eine Übung in Datenerhebung? So was führen wir regelmäßig im Gartencenter durch. Was haben wir da, wovon brauchen wir mehr? Übrigens bin ich jetzt ein echter Tausendsassa in Sachen Pflanzen. Ich kann dir sämtliche Miscanthusarten runterrattern, dir alles über Verbena bonariensis erzählen – was du willst. Vielleicht habe ich meine Berufung verfehlt. Warum hat mich niemand auf die Gartenbauschule geschickt? Zierlichen alten Damen, die eine hübsche Kletterpflanze fürs Rankgitter suchen, bin ich auf reizende Weise behilflich.«
    »Paul«, sagt Gina, »was soll das alles?«
    »Ich hab’s dir doch gesagt. Selbsterforschung. Eine ehrliche Bewertung der bisherigen Biografie.« (Pause.) »Ich weiß nicht, ob ich lachen oder heulen soll. Würdest du mich bitte daran erinnern, wie alt ich bin?«
    Gina antwortet nicht.
    »Nein, lieber doch nicht, wenn ich mir’s recht überlege. Das vergess ich lieber.«
    »Genug davon«, sagt Gina.
    »Genug wovon?«
    »Selbstgeißelung.«
    »Den Ausdruck hab ich schon mal gehört. Vielleicht haben ihn die Psychologen benutzt. Bei den langen Wörtern hab ich meistens weggehört. Bei den Fragen auch, soweit möglich. Ziemlich hartnäckig, diese Psychologen. ›Möchten Sie mir von Ihrer Kindheit erzählen, Paul?‹ Nein, danke. Aber dann muss man doch, damit sie Ruhe geben. Ich habe ihnen einmal vom Kellerspiel erzählt.«
    Gina lacht.
    »Mann, waren die interessiert. ›Und welche Rolle hatten Sie darin, Paul?‹ James Bond. Piratenhäuptling. Der Psychologe nickt verständnisvoll.«
    »Was hast du ihnen sonst noch erzählt?«
    »Nicht viel. Geht sie nichts an.« (Pause.) »Man kann’s auch gar nicht erzählen, oder? Es lässt sich nicht richtig in Worte fassen. Es ist in einem drin, und da bleibt es. Alles längst vorbei. Oder auch nicht, je nachdem.«
    »Nach allgemeiner Ansicht ist es eben nicht vorbei. Daher die Psychologen.«
    »Bäh …« (Pause.) »Soll ich dir was erzählen?«
    »Bitte«, sagt Gina.
    »Sie hat mal zu mir gesagt, ich sei ihr Liebling. Das hätte sie nicht sagen sollen, oder? Egal, ob’s stimmt. Eine gute Mutter sagt so was nicht. Gute Mütter haben keine Lieblinge, oder wenigstens geben sie’s nicht zu. War es denn wirklich so?«
    »Ja«, sagt Gina.
    (Pause.) »Haben es alle gewusst?«
    »Ja.«
    (Pause.) »Hat dir das was ausgemacht?«
    »Mir? Nicht besonders viel. Ich erinnere mich nur, dass ich ihre Wahl ziemlich pervers fand.«
    »Na, vielen Dank auch.«
    »Sag mal, geht’s dir gut?«, fragt Gina.
    »Klar geht’s mir gut. Wann ist es mir jemals nicht gut gegangen?«
    »Na ja …«, murmelt Gina.
    (Pause.) »Lassen wir das, ja?« (Pause.) »Mir geht’s gut, abgesehen von meinen Rückenschmerzen vom Herumwuchten der Kompostsäcke. Wer die Welt wirklich am Laufen hält, ist doch der gemeine Malocher wie ich und nicht Leute, die vor einer Fernsehkamera rumstolzieren.«
    »Wie auch immer«, sagt Gina, »wir müssen beide morgen arbeiten, und es ist schon nach Mitternacht.«
    »Ein kleiner Wink? Okay, ich lass dich in Ruhe. Tschüss dann.«
    Paul liegt auf dem Bett. Er legt sein Handy weg und starrt an die Zimmerdecke, die er kennt, seit er lebt. Diese Sprünge – wie ein Fluss mit Nebenflüssen. Die nachgedunkelten Stellen – in Allersmead wird nicht neu gestrichen. Nach jeder Abwesenheit – nach Monaten, einem Jahr oder so – betrachtet er die Decke wieder, halb resigniert, halb wütend. Denn er hat eine persönliche Beziehung zu ihr. Sie ist seine persönliche Decke, Trost und Hohn zugleich.
    Jetzt verhöhnt sie ihn. Die Sprünge im Gips ordnen sich zum Profil eines Gesichts, das Profil wiederum wird zum Gesicht eines Mädchens, das er einmal kannte.
    Er sitzt neben ihr auf der niedrigen Mauer der Promenade und ist glücklich. Eigentlich kann er sie, als er hier in Allersmead zur Decke hoch und zurück zu jenem Moment blickt, nicht sehr gut erkennen, ihr Profil ausgenommen, aber merkwürdigerweise kann er sie hören, hört auch die Möwen und das Rauschen der Brandung, die rollenden Kiesel. Und er weiß von seinem Glück; ihm wird klar, dass er damals nicht wusste, wie glücklich er war, und dass er jenen Moment erst jetzt richtig auskosten kann.
    Sie lacht, als sie hört, dass er

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