Familienbande
setzten die Männer den Sarg auf dem Boden ab und verschlossen die Tür wieder.
„So“, sagte Jason. „Dann wollen wir meinen lieben Cousin mal wecken, was?“
Kathleen war von der Prozedur der Erweckung fasziniert. Man hatte ihr zwar bereits gesagt, dass man Menschenblut benötigte, um einen Warmblüter wieder auf die Beine zu bekommen. Aber nicht, dass es üblich war eine richtige Zeremonie daraus zu machen.
Doreen hatte Greg genau in die Mitte des Raumes legen lassen und sogleich begonnen, um ihn herum Kerzen zu platzieren. Kathleen hätte ihr gerne dabei geholfen, war sich aber sicher, dass Doreen das Angebot ablehnen würde. Daher stand sie nur unbeteiligt an der Seite und beobachtete neugierig das Geschehen.
Als Jason neben sie trat und ihre Hand ergriff, lächelte sie leicht. Wie zu erwarten gewesen war, hatte seine Familie große Probleme damit ihre Verbindung zu akzeptieren. Doch Jason hatte sich seit den Konflikten mit den Ältesten ganz klar zu ihr bekannt und schützte sie, so gut er konnte, vor allen Anfeindungen und Beleidigungen. Kathleen wusste, dass es ihn schmerzte zu sehen, wie unglücklich Doreen über die Verbindung war. Aber er hatte keine Sekunde auch nur darüber nachgedacht, das Band wieder zu durchtrennen. Das rechnete Kathleen ihm hoch an.
Sie hatten beide gewusst, dass es nicht einfach werden würde eine Beziehung zu haben. Sie hatten sogar in Erwägung gezogen, sich ganz abzusetzen und zu zweit ein ruhiges, zurückgezogenes Leben zu führen. Doch sie waren zu dem Schluss gekommen, dass sie das Laney nicht antun wollten. Vorerst war es wichtiger, dem Mädchen bis zu ihrer ersten Schlafphase beizustehen. Sobald sie erst einmal schlief, wäre es immer noch möglich sich abzusetzen. Bis dahin jedoch würde Kathleen sich mit Doreen arrangieren müssen.
Doreen war mit den Kerzen inzwischen fertig geworden und hatte das elektrische Licht gelöscht. Sie setzte sich an Gregs Kopfende und umschloss seinen Kopf mit ihren Händen. Dann begann sie zu singen.
Es war eine Sprache, die Kathleen nicht kannte. Aber Doreens Stimme war so wunderbar und die Melodie so traurig, dass Kathleen eine Gänsehaut bekam. Das Lied erinnerte sie an Kirchenmusik, war aber mit nichts vergleichbar, was sie bisher gehört hatte. Kathleen hätte am liebsten gefragt, ob man immer singen musste, um jemanden zu erwecken, doch sie traute sich nicht, die Prozedur zu stören. Jason, der ihre Gefühlsregungen erspüren konnte, sah sie an.
„Das Singen erleichtert uns das Erwachen“, flüsterte er so leise wie möglich. „Es ist nicht zwingend notwendig, aber es macht uns den Übergang angenehmer.“
Kathleen nickte. Als sie noch ein Mensch gewesen war, hatte sie sich auch lieber vom Radio wecken lassen, als vom Summer. Sie konnte sich zwar kaum noch an die Menschen erinnern, die ihr in ihrem früheren Leben wichtig gewesen waren, aber solche Dinge wusste sie noch.
Das Lied von Doreen schallte durch den gesamten Raum und erfüllte ihn in wundersamer Weise. Immer höher gingen die Töne, bis Doreen ganz plötzlich abbrach. Viktor, der neben ihr gestanden hatte, reichte ihr eine Blutkonserve mit Menschenblut, an der sie einen Schlauch befestigt hatten. Kathleen schluckte. Sie konnte riechen, dass das Blut sehr frisch war. Am besten war es angeblich sogar, für den Erwachenden einen lebendigen Menschen bereitzuhalten – und vor einigen Jahrhunderten wurden bei Erweckungen tatsächlich noch solche Menschenopfer gebracht. Doch diese Zeit war lange vorbei. Menschenopfer waren inzwischen verboten und Greg würde sich mit einer Konserve begnügen müssen.
Doreen öffnete behutsam Gregs Mund und steckte ihm den Schlauch in den Hals. Dann drückte sie langsam, bis die Flüssigkeit anfing in seinen Körper zu laufen. Kathleen schluckte wieder und Jason drückte beruhigend ihre Hand. Kathleen hatte noch nie in ihrem Leben Menschenblut getrunken. Durch die Verbindung musste sie zwar etwas zu sich nehmen, trank aber vorsichtshalber nur Kunstblut, um keine Verwandlung zu riskieren. Es war zwar nicht sicher, ob sie sich überhaupt noch verwandeln konnte, aber das Risiko wollte niemand in der Familie eingehen. Eine Dienerin als Schwiegertochter mochte ja gerade noch angehen. Eine Wilde als Schwiegertochter war hingegen vollkommen indiskutabel. Kathleen wäre schneller tot, als sie bis drei zählen könnte.
Kathleen riss ihren Blick von dem Blut los und sah stattdessen Jason an. Sie hatte sich schon vor Jahren daran gewöhnt
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