Familienbande
Staub zu seinen Füßen. »Ich erzähle ihr die Geschichte vom Baum von Eisdon«, sagte er schließlich. »Danach wird sie‘s sich zweimal überlegen, ob sie Großvater ins Grab bringt.« Er stand auf und ging zur Tür, doch Mr. Dodd hielt ihn zurück. »Eins hast du vergessen«, sagte er. »Du mußt deinen Vater finden.« Lockhart wandte sich um. »Noch fehlt mir das Geld, aber wenn ich es erst habe ...« Das Abendessen war eine trübsinnige Angelegenheit. Mr. Flawse plagten wieder Schuldgefühle, die Lockharts Eintreffen nur noch verstärkte. Mrs. Flawse hieß ihn überschwenglich willkommen, doch ihre Begrüßung erstarb unter Lockharts finsteren Blicken. Erst nach dem Abendessen, als Mr. Flawse sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte, sprach Lockhart mit seiner Schwiegermutter. »Wir beide werden Spazierengehen«, erklärte er, als sie am Spülstein stand und ihre Hände trocknete. »Spazieren?« sagte Mrs. Flawse und spürte, wie ihr Arm über dem Ellbogen gepackt wurde. »Aye, spazieren«, sagte Lockhart und schob sie in die Dämmerung und über den Hof bis zum Wehrturm, in dessen Innerem es dunkel und unheimlich war. Lockhart schloß die große Tür und verriegelte sie, ehe er eine Kerze anzündete. »Was soll das bedeuten?« sagte Mrs. Flawse. »Du hast kein
Recht ...«
Doch sie wurde von einem unheimlichen Geräusch unterbrochen, das von oben zu kommen schien, ein schrilles, schreckliches Geräusch, das dem Wind glich und doch eine Melodie hatte. Vor ihr hielt Lockhart die Kerze hoch, und seine Augen glühten so unheimlich wie die Musik. Er stellte die Kerze ab, nahm ein langes Schwert von der Wand und sprang auf die dicke Eichentischplatte. Mrs. Flawse wich gegen die Mauer zurück, die flackernde Kerze warf einen großen Schatten auf die zerschlissenen Fahnen, und als sie ängstlich um sich blickte, fing Lockhart zu singen an. Ein Lied wie dieses war ihr noch nie zu Ohren gekommen, doch es paßte zu der von oben ertönenden Melodie.
»Von Wall nach Wark kannst du nicht schrei‘n
Auch nicht vom Himmel bis zur Hölle hinab
Doch triffst du in Flawse Hall auf dem Hochland ein
Dann hörst du was ich dir zu erzählen hab‘.
Denn die alte Flawse Hall kennt viele Geschichten
Und Wände können manchmal schauen
Das Unheil welches böse Frauen anrichten
Und welche Pläne sie brauen.
Aye, stumme Steine klagen ihr Leid
Auch ohne ein einziges Wort
Doch wer ihre Tränen lesen kann weiß Bescheid
Denn was du planst ist Mord.
Ein alter Mann ein bös‘ Weib geheiratet hat
In seinem Bett die Mörderin ruht
Sein Leben zu nehmen, das plant sie als Tat
Will ihn sehen im eigenen Blut.
Wir alle müssen im Grabe enden
Wenn die Zeit verstrichen ist
Doch solltest du ihn wirklich in selbiges senden
Wirst du‘s bereuen gewiß.
Deine Tochter liebe ich innig und heiß
Drum hüte dich und behalt klaren Kopf
Damit ihre Mutter ins Gras nicht beißt
Weil ich ihr aufschlitze den Kröpf.
Also halt deinem Mann das Bett fein warm, gib acht
Und trockne die Laken fein
Sonst such ich dich auf in einer Nacht
Wo auch immer dein Versteck mag sein.
Doch langsam, ganz langsam sollst sterben du
Falls die Hölle dich übersah
Und selbst der Teufel wird weinen im Nu
Solche Qualen er nie zuvor sah.
Drum, Flawsesche Frau, erinnre dich fein
Wenn wieder im Bette du liegst
Witwe Flawse wird die Hölle zusammenschrein
Bevor sie ihr Blut vergießt.
Aye, Weib des Flawse am Flawseschen Moor
Auf dieses Schwert nun schau
Denn die Wahrheit drang soeben an dein Ohr
Und mein Wort es stimmt genau
Und ich selbst würd‘ sterben um dich sterben zu sehen
Sollt genommen mir werden auf Dauer
Der Flawse, der nach meiner Geburt zugegen
Neben einer Bruchsteinmauer.«
Draußen in der Dunkelheit stand Mr. Flawse, den die von den Zinnen des Wehrturms ertönende Dudelsackmusik aus seinem Arbeitszimmer gelockt hatte, neben der Tür und hörte bis zum Ende der Moritat genau zu. Dann vernahm man nur noch das Blätterrascheln in den windgebeugten Bäumen und ein Schluchzen. Er wartete noch einen Moment, ehe er zurück ins Haus schlurfte, in seinem Kopf jagten sich eine ganze Reihe neuer Gewißheiten. Was er soeben gehört hatte, ließ ihm keinen Raum mehr für Zweifel. Der Bastard war ein echter Flawse, dessen Ahnenreihe lückenlos bis zum Bänkelsänger Flawse zurückreichte, der unter dem Galgen von Eisdon aus dem Stegreif seine Weisen vorgetragen hatte. Und zu dieser Gewißheit gesellte sich eine zweite: Lockhart war ein aus eugenischen Gründen zur falschen Zeit
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