Familienkonferenz in der Praxis
spielen. Er versuchte die Bänder abzumachen, mit denen sie umwickelt war (Schritt IV: Entscheidungsfindung). Glücklich beschäftigte er sich eine halbe Stunde mit ihr, während ich meiner Hausarbeit nachging (Schritt V: die Lösung verwirklichen). Jedes Mal wenn ich in das Zimmer zurückkam, um nach ihm zu sehen, war er immer noch mit dem Schächtelchen beschäftigt (Schritt VI: Nachprüfung).«
Die Mutter unterlag nicht, das Kind unterlag nicht – beide siegten! Alles vollzog sich nicht verbal. Die Mutter eines Säuglings berichtete sehr eingehend von einem anderen Vorfall:
»Als Bobby vierzehn Monate alt war, liebte er seine Flasche. Wenn er an ihr saugte, sah es aus, als befände er sich in einem Trancezustand. Er lud sozusagen seine Batterien auf. Er saugte einige Augenblicke und wandte sich dann einer anderen Beschäftigung zu. Die Flasche blieb irgendwo
auf dem Fußboden. Das Problem bestand darin, dass aus dem Schnuller der vollen Flasche, wenn sie auf der Seite lag, Milch tröpfelte. Diese hinterließ hässliche Flecke auf unserem neuen, teuren Teppichboden. Zuerst versuchte ich, meine eigene Einstellung zu modifizieren. Ich nahm mir vor, den Teppich von einer Spezialfirma säubern zu lassen, sobald Bobby die Flasche nicht mehr brauchte. Aber im Laufe der Monate nahm der Teppich ein immer schlimmeres Aussehen an. Ich konnte den Anblick der hässlichen Flecke auf unserem schönen neuen Teppich nicht mehr ertragen. Mir wurde jedes Mal ganz anders, wenn ich ihn ansah. Als Nächstes kaufte ich ganz neue Schnuller, weil ich dachte, dass die Löcher in den alten ausgefranst seien und dass sie deshalb leckten. Auch das half nicht. Die neuen Schnuller leckten genauso wie die alten. Mein dritter Versuch bestand darin, es mit einer neuen Flaschenart zu versuchen. Sie leckte nicht, aber Bobby war nicht an sie gewöhnt. Bobby gefiel das gar nicht, weil er nicht in seiner Lieblingshaltung trinken konnte: die Flasche senkrecht auf dem Fußboden, Bobby über ihr sitzend, das Kinn an den Nuckel gelegt, beim Saugen den Blick auf den Fußboden gerichtet, auf seine Finger, ein Buch oder ähnliches. Bobby weinte, als ich ihm die neue Flasche gab. Er gab sie mir zurück und ging zum Kühlschrank, wo ich, wie er wusste, die alten Flaschen aufhob. Mein nächster Einfall erwies sich dann endlich als erfolgreich. Ich vergegenwärtigte mir noch einmal meine Bedürfnisse. Erstens: Es hatte mich viele Stunden gekostet, die Milchflecke aus dem Teppich zu schrubben. Ich wollte keinen neuen drinhaben. Zweitens: Ich verbringe viel Zeit im Wohnzimmer und habe dabei gern einen hübschen, sauberen Teppich vor Augen. Man könnte sagen, dass es für mich fast ein ästhetisches Vergnügen ist. Bobbys Bedürfnis lag auf der Hand: Er wollte jederzeit, an jedem Ort in eben der Weise aus seiner Flasche trinken, die ihm genehm war. Da beschloss ich, seine Flasche, wenn wir unten waren, mit Wasser zu füllen. Die Milch bekam er oben, wo es mir gleichgültig war, ob Flecken in den Teppich kamen oder nicht. Ich versuchte es damit, und er akzeptierte es klaglos. Ihm ging es um die Flasche, nicht um ihren Inhalt. Und mir war es gleichgültig, ob Wasser auf den Teppich tröpfelte,
weil diese Flecken trockneten, ohne Spuren zu hinterlassen. Ich glaube, wir sind beide mit dem Ergebnis zufrieden. Durch die Methode der ›Familienkonferenz‹ wurden unser beider Bedürfnisse, Bobbys und meine, berücksichtigt. Auf lange Sicht wird der Effekt hoffentlich sein, dass Bobby in dem Bewusstsein aufwächst, dass er ein Mensch ist, der zählt, der ein Recht darauf hat, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Aber auch ich habe die gleichen Rechte.«
Die Entdeckung, dass Eltern die niederlagelose Methode auch schon verwenden können, wenn ihre Kinder noch Säuglinge sind, ist von weit reichender Bedeutung für die Vorbeugung gegen Kindesmisshandlungen.
Seit Jahren dringt es zunehmend in die Öffentlichkeit, wie viele Kinder in unserer Gesellschaft das Opfer elterlicher Brutalität werden.
Ein sehr hoher Prozentsatz dieser Opfer sind Säuglinge. Ist die Erklärung vielleicht darin zu suchen, dass Säuglinge nicht mittels verbaler Kommunikation (durch Strafandrohung, angstinduzierende Befehle und Warnungen) beeinflusst werden können? Dies sind die Botschaften, zu denen die meisten Eltern älterer Kinder Zuflucht nehmen. Die Eltern von Säuglingen greifen jedoch auf nicht verbale Gewaltakte zurück (Klapse, Schläge, Fausthiebe, Fußtritte oder
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