Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
Transsexualität unter bestimmten Umständen erstaunlich gut harmonierten. Was sich leider überhaupt nicht vertragen hatte, waren die Machtansprüche der beiden Frauen. Denn meine Mutter betrachtete das Lokal, das sich unter ihrer Ägide vom Lebensmittelladen zum Trendrestaurant gemausert hatte, selbstbewusst als ihr Imperium, für das sie längst eine Kronprinzessin auserkoren hatte. Und Miranda weigerte sich mit einer an Autismus grenzenden Sturheit, von ihr Befehle entgegenzunehmen, geschweige denn, diese zu befolgen. Vielleicht wurzelte ihre konstante Ablehnung darin, dass sie dies in ihrem alten Job viel zu oft hatte tun müssen und sie so einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen versuchte. Möglicherweise hatte sie sich aber nur noch nicht daran gewöhnt, dass auch angezogene Menschen Forderungen an sie stellen konnten.
Jedenfalls hatte Miranda bereits nach wenigen Wochen das Feld geräumt und konzentrierte sich seither auf die Suche nach einem eigenen Reich. Wo sie die alleinige Chefin geben konnte.
»Willst du auch?« Miranda streckte mir den Joint hin und ich nahm einen vorsichtigen Zug. Wie erwartet, war das Zeug so stark, dass man damit eine gesamte Berufsschule auf eine mehrtägige Flugreise hätte schicken können.
»Ich hab Angst, Vijay.«
»Ich weiß. Aber ich werde am Sonntag da sein. Ich lass dich nicht im Stich.«
»Wirklich?«
»Versprochen.«
Ich zog sie an mich und gemeinsam verfolgten wir, wie die länger werdenden Sonnenstrahlen über das David-Bowie-Poster an der gegenüberliegenden Wand glitten, während der Joint mit jedem Zug kürzer wurde.
Nachdem ich Miranda komplett bekifft im Bett zurückgelassen hatte, unternahm ich einen kleinen Spaziergang durchs Quartier, um wieder einen halbwegs klaren Kopf zu kriegen. Viel war in letzter Zeit über den Kreis 4 geschrieben worden, über teure Renovationen und Neubauten, über alteingesessene Familien, die in Außenbezirke verdrängt wurden, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten konnten, über Rentner, die am Ende eines langen Lebens von gewinngeilen Vermietern kaltherzig aus ihren Wohnungen vertrieben wurden. Jeder hatte eine Meinung und tat sie ungefragt kund. Der Begriff ›Gentrifizierung‹ wurde dabei geradezu inflationär eingesetzt, selbst von Leuten, die üblicherweise Mühe mit mehrsilbigen Wörtern bekundeten.
Ich selbst war es müde geworden, die sich rasch verändernde Situation zu kommentieren. Die Richtung war deutlich zu erkennen und dagegen tun konnte man nichts, außer hoffen, dass das Haus, in dem man selbst wohnte, nicht eines schönen Morgens an den Höchstbietenden verhökert wurde. Es war dieselbe Ohnmacht, die einen an manch lauschigem Sommerabend verständnislos den Kopf schütteln ließ, weil man aufgrund von angedrohten Lärmklagen, Polizeieinsatz und was sonst noch an Einschüchterungsmöglichkeiten existierte, schon um zehn Uhr gezwungen wurde, sein Bierchen im Innenbereich der Bar zu trinken. Angeblich weil sonst die neu zugezogenen Mieter – es waren meiner Erfahrung nach ausnahmslos solche – hinter den schalldicht isolierten Fenstern ihrer brandneuen und überteuerten Loftwohnungen nicht die dringend benötigte Ruhe fanden.
Natürlich hätten man argumentieren können, dass es in Zürich ruhigere und genauso zentrale Quartiere gab. Offensichtlich aber galten die schicken Neubauten im angesagten Ausgehviertel in gewissen Zirkeln als Prestigeobjekte. Der weitverbreitete Irrglaube, dass einen schon das Wohnen in einer coolen Gegend selbst cool machte, zog in irgendwelchen Studentenseilschaften oder allenfalls in der deutschen Provinz leider immer noch. Weshalb hier allmählich die Leute überhandnahmen, die unbedingt am Puls der Stadt leben wollten, sich aber beklagten, wenn man diesen pochen hörte.
Gegen fünf kehrte ich in mein Büro zurück. Ich fuhr den Computer hoch und recherchierte halbherzig, unter welchen Voraussetzungen DNA -Tests gemacht werden konnten, des Weiteren über Adoptionen und wie die Rechtslage in der Schweiz aussah, welche Institutionen es gab. Die einzigen Erklärungsmöglichkeiten, die mir zum Problem meines morgendlichen Besuchs einfielen. Irgendwie beschäftigte mich die merkwürdige Geschichte des Mädchens. Auch wenn sie eine unmögliche Haltung an den Tag gelegt hatte, ich hatte den dunklen Schatten, der über ihr hing, genauso wenig vergessen wie den fingierten Anruf. Die Verzweiflung in ihrem Blick war echt gewesen. Einfach aus Langeweile behauptete nicht
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