Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
anstieg. Und damit leider auch die unkoordinierten Bewegungen. Als ich an zwei Männern vorbeikam, die den teuer aussehenden, schwarzen Rollkragenpullis und betont legeren Jeans nach in einer Werbeagentur arbeiteten, winkte der eine unerwartet einer Bekannten in der Menge zu und stieß dabei mit dem Handrücken grob an mein Tablett. Erstaunlich geistesgegenwärtig gelang es mir, das Servierbrett waagrecht zu halten, die verbliebenen Gläschen mit Hühnersuppe kippten aber trotzdem um und verursachten ein schlammfarbenes Schlamassel.
»Müssen Sie ausgerechnet hier rumstehen?«, schnauzte mich der Werbefachmann an, bevor er seiner Bekannten entgegeneilte. Wütend blickte ich ihm hinterher und deponierte das Tablett auf einem der Bartische, um die Schweinerei zu begutachten.
»Wie ich sehe, bist du als Kellner genauso unbrauchbar wie als Detektiv!« Wie aus dem Nichts stand sie plötzlich vor mir und grinste schief. War ihr Spott am Vormittag noch ätzend gewesen, klang er nun warmherzig und ein wenig müde. Auch den Vampirlook war sie losgeworden, das samtglänzende moosgrüne Abendkleid, das ihre Rundungen sanft betonte, stand ihr ausgezeichnet, außer einem Lippenpiercing und den schwarz bemalten Fingernägeln erinnerte nichts an ihren Auftritt in meinem Büro als Frankensteins Tochter. Vielmehr wirkte sie jetzt tatsächlich wie ein sechzehnjähriges Mädchen. Dessen Namen ich nach wie vor nicht kannte, denn sie hatte es nicht für nötig gehalten, sich vorzustellen.
Ich ächzte demonstrativ. »Mir bleibt heute echt nichts erspart!«
»Läuft wohl nicht so, was?«
»Ich hatte schon bessere Tage.«
»Ich auch.«
In der Pause, die entstand, fischte ich einige der umgekippten Gläschen aus der verschütteten Suppe und richtete sie wieder auf.
»Ich sollte das wohl in die Küche zurückbringen …«
Ihr Lächeln versiegte und der Gesichtsausdruck verkrampfte sich. Eine Sekunde später schob sich eine sportlich gebräunte Blondine aus der Menschentraube und legte den Arm um die Schultern des Mädchens.
»Kommst du bitte kurz mit, Noemi?«, forderte die Frau meine Gesprächspartnerin in einem Ton auf, der keinen Widerspruch duldete. Dem gut kaschierten Alter nach war sie wahrscheinlich die verschriene Mutter.
Sie musterte mich mit einer Miene, die deutlich machte, dass sie ihr vernichtendes Urteil über mich bereits gefällt hatte.
»Ich unterhalte mich gerade«, erklärte das Mädchen leise.
Die Antwort schien die Dame wenig zu interessieren. Sie verstärkte den Druck auf die Schulter ihrer Tochter und dirigierte sie von mir weg.
»Frau Neuhaus möchte dich gern kennenlernen. Du weißt, die Gattin des Besitzers dieser Modekette, mit der ich jeweils donnerstags Tennis spiele.«
»Aber Mom …«
»Noemi!« Die Frau strafte das Mädchen mit einem warnenden Blick. »Das ist wichtig! Schließlich suchst du eine Lehrstelle, nicht ich!«
Das Mädchen drehte sich hilflos nach mir um, während sie von ihrer Mutter durch die Menge navigiert wurde, einer Gruppe älterer Leute entgegen.
»Ein marokkanischer Kellner, mein Gott!«, hörte ich die Frau gerade noch zischen, bevor sie außer Hörweite war. »Was hast du dir bloß dabei gedacht!«
Ich hatte mir gerade eine Zigarette auf dem Balkon im ersten Stock angezündet, als sich Manju zu mir gesellte.
»Wie läuft’s?«, fragte sie.
»Ganz gut, würde ich sagen. Wenn dieser Betriebsunfall nicht gewesen wäre …«
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nimm’s nicht so tragisch. Solche Dinge passieren halt.«
Stumm zog ich an meiner Zigarette. Nachdem ich beinahe ein Jahr lang erfolgreich Nichtraucher gewesen war, war ich in letzter Zeit dazu übergegangen, mir abends hin und wieder einen oder zwei Glimmstängel zu gönnen. Meist in Kombination mit Alkohol oder wenn ich das Gefühl hatte, mich belohnen zu müssen, so wie heute. Mir war durchaus bewusst, dass mein suchtfreudiges Gehirn immer nichtigere Gründe für eine Zigarette fand und selbstständig Situationen herbeiführte, in denen es Rauchen für angebracht hielt. Doch solange ich die Oberhand behielt und tagsüber problemlos auf Nikotin verzichten konnte, genoss ich die Fluppen aus tiefstem Herzen.
»Genau so was habe ich mir als Alterswohnsitz vorgestellt«, raunte ich Manju zu und macht eine umfassende Geste. Allein der Balkon mit seinen hohen Säulen und dem pompösen Geländer erinnerte an einen griechischen Palast.
Gedankenverloren lehnte sich meine Liebste an mich und schaute auf die
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