Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
würde. Wahrscheinlich weil es schlicht keine gab.
»Sorry, meine Mutter ist manchmal unmöglich.«
Ich hatte das Mädchen nicht kommen hören. Als ich mich zu ihr umdrehte, lächelte sie schwach.
»Das haben Mütter so an sich. Noemi, nicht?«
Sie nickte und stützte sich mit einem leisen Seufzer auf dem Balkongeländer ab.
»Was war das heute Mittag?« Ihre absurden Behauptungen waren mir nicht aus dem Kopf gegangen. Jetzt schien mir ein günstiger Zeitpunkt nachzuhaken, Noemi wirkte um einiges zugänglicher als in meinem Büro.
»Es interessiert dich ja doch nicht«, sagte sie niedergeschlagen.
»Jetzt, da du dich nicht mehr wie eine verwöhnte Zürichberggöre aufführst, schon.«
»Ha!« Ihre Augen funkelten plötzlich wieder angriffslustig. »Du hättest dich sehen sollen! In jeder Schnapsbrennerei riecht es angenehmer als in deinem Büro und du sahst aus wie so ein versoffener, arbeitsloser Schauspieler.«
»Ich bin kein Schauspieler!«, erwiderte ich, nachdem ich kurz nachgedacht hatte.
»Wie auch immer.«
»Ich will’s dennoch wissen.«
Noemi warf mir einen zweifelnden Blick zu. »Du verarschst mich nicht?«
»Nein.«
»Es ist so, wie ich gesagt habe«, erklärte sie, nachdem sie tief durchgeatmet hatte. »Vielleicht hätte ich mich deutlicher ausdrücken müssen. Aber ich bin nicht die Tochter meiner Eltern. Es ist schwer zu erklären, aber ich weiß es. Etwas passt nicht und sperrt sich die ganze Zeit, ich spüre das ganz tief in mir drin.«
Ich hielt den Mund und zündete mir eine Zigarette an.
»Darf ich eine?« Mit einer knappen Kinnbewegung deutete sie auf die Fluppe.
Ich reichte ihr das blaue Päckchen Parisienne und gab ihr Feuer. Sie nahm einen vorsichtigen Zug und hüstelte.
»Es ist, als würde uns der Kitt fehlen, der andere Familien im Innersten zusammenhält. Wir sind wie drei lose aneinandergebundene Luftballons, die in verschiedene Richtungen streben. Puzzleteilchen, die nicht zusammengehören. Je älter ich werde, desto stärker wird diese Empfindung. Ich komme mir irgendwie abgenabelt vor. Entwurzelt. Allein.«
»Aber ist das nicht ein übliches Gefühl in der Pubertät?«, gab ich zu bedenken. »Man kommt sich vor, als hätte diese Gesellschaft keinen Platz für einen vorgesehen? Als verbände einen nichts mit dem Rest der Welt?«
»Ja schon, aber bei mir nahm das eine Zeit lang voll intensive Züge an. Irene war entsetzt, als ich sie damit konfrontierte. Da war ich etwa dreizehn.«
»Irene?«
»So heißt meine Mutter. Seit ein paar Jahren müsste ich sie eigentlich so nennen, sie will nicht mehr ›Mom‹ gerufen werden, schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Sie hat das Gefühl, es lasse sie alt erscheinen, wenn ihre sechzehnjährige Tochter sie so bezeichnet.« Noemi zuckte mit den Schultern.
»Wie hat sie auf deine Vorwürfe reagiert?«
»Ich wurde natürlich sofort zu einer Psychologin geschickt. Die hat dann für einen krassen Stundensatz ein wenig zugehört, bedenklich mit dem Kopf gewackelt und schließlich auch gemeint, das hänge mit dem Alter zusammen. Das lege sich.«
Noemi zog an der Zigarette und blinzelte hinauf in den nächtlichen Himmel. »Ich hab schnell gemerkt, dass ich besser fahre, wenn ich so tue, als sei die Angelegenheit für mich damit erledigt und alles ein Hirngespinst einer schwierigen Heranwachsenden. Doch der Verdacht ist geblieben. Da waren Fragen, auf die mir niemand eine Antwort geben konnte. Ich hatte schlaflose Nächte und manchmal ging’s mir richtig beschissen. So was quält einen extrem, kannst du das verstehen?«
Ich gab ein zustimmendes Brummen von mir.
»Ich langweile dich, oder?«
»Keineswegs, ich hör nur konzentriert zu.«
Durch die offenen Fenster im Erdgeschoss drangen die Geräusche der Party zu uns herauf. Gläser klirrten und halblaute Musikfetzen waren zu hören, ein helles Frauenlachen schraubte sich aus dem sanft wogenden Gesprächsteppich.
»Du glaubst sicher, ich bilde mir was ein. Aber es gibt Beweise, dass in meiner Familie etwas faul ist«, nahm Noemi den Faden wieder auf.
»Die Fotoalben zum Beispiel.«
»Was ist mit denen?«
»Auf Facebook hat eine Bekannte Fotos hochgeladen. Sie als Baby und so. Vorher hatte ich mir nie Gedanken dazu gemacht, doch als ich die gesehen habe, fiel mir auf, dass von mir überhaupt keine Bilder als Neugeborenes existieren. Ich hab dann sofort in den Alben nachgeguckt. Auf der ersten Aufnahme, die es von mir gibt, bin ich schon ein paar Tage alt.«
»Vielleicht
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