Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
mit der Vergangenheit Österreichs, der Mohnkuchen erinnerte mich plötzlich an die Heroinopfer auf dem Platzspitz, die Milchsäure im Rivella an das Leid der Bergbauern. Ich war regelrecht paranoid geworden.
»Ich hätte gern …«, stammelte ich und starrte sie überfordert an. Nein, ich durfte sie keinesfalls zu direkt anschauen, ermahnte ich mich panisch, sonst vermutete sie gleich sexuelle Absichten dahinter, schließlich war ich als Mann immer ein Aggressor, ein potenzieller Vergewaltiger, und ich wollte mir lieber nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn ich jetzt auch noch eine ›Stange‹ bestellte …
»Orangensaft«, sagte ich schließlich. Mit Fruchtsäften konnte man nichts falsch machen. Dachte ich.
Entsetzt riss sie die Augen auf: »Der kommt aus Brasilien! Soll ich dir mal die Ökobilanz für einen Liter ausrechnen?«
José sah müde aus, als ich mich zu ihm setzte. Seine sonst mediterrane Bräune war Blässe gewichen, der typische Stoppelbart wirkte jetzt noch dunkler als sonst.
» Hombre , Leitungswasser?« Ungläubig wanderte sein Blick von den beiden Gläsern zu mir.
»Wasser in Flaschen belastet die Umwelt vehement.«
»Ach? Geschäftstüchtig ist das nicht gerade.«
»Dafür rettet sie den Planeten.«
»Schön.« Gedankenverloren zog er ein Päckchen Zigaretten hervor, doch ich machte ihn unauffällig auf das Elternpaar am Nebentisch aufmerksam, das sich beim leisen Knirschen der Plastikfolie wie von der Tarantel gestochen in Angriffstellung gebracht hatte und schon mal demonstrativ angeekelt die Gesichter verzog. Von wegen freier Westen! Eine Terrordiktatur war zwar kaum besser, aber wenigstens wurden dort die Dinge beim Namen genannt.
»Du siehst scheiße aus.«
»Er zahnt«, erklärte José. »Letzte Nacht hat er uns sechs Mal geweckt.«
Ich wusste nicht recht, was ich dazu sagen sollte. ›Selber schuld‹ oder ›Das hast du jetzt davon‹ kamen erfahrungsgemäß nicht so gut an. Also lächelte ich dem friedlich schlafenden Miguel Antonio zu und bevor ich mir wieder detailgenaue Schilderungen von Babyscheiße anhören musste oder welche Worte man aus dem Gebrabbel des Kleinen schon deutlich heraushören konnte, kam ich auf mein Anliegen zu sprechen.
»Nur das Wochenende. Wir fliegen morgen und sind Sonntag früh zurück«, versuchte ich, José von meinem Vorhaben zu überzeugen. Dank einer länger zurückliegenden Reise durch Südamerika traute ich mir zwar zu, mich auf Spanisch durchzuschlagen, doch Josés Familie stammte aus Madrid und er kannte sich entsprechend in der Stadt aus. Zudem hatte ich keine Lust, allein hinzufliegen. »Du hast gesagt, du hättest dir auf der Redaktion ohnehin ein paar Tage Urlaub genommen.«
»Schon, aber ich weiß nicht. Fiona …«
»Es täte dir sicher gut, mal aus dem Babyalltag rauszukommen! Wieder mal wie ein Erwachsener reden …«
» Pero … Ich kann sie doch nicht einfach alleinlassen!«
»So wie ich deine Freundin einschätze, wird sie das problemlos meistern.«
»Erkennt er mich noch, wenn ich zurückkomme?« Zweifelnd wies José auf seinen Sohn.
»Mann, es sind nur zwei Tage! Achtundvierzig Stunden Freiheit. Drinks in tollen Bars, köstliche Tapas, coole Klubs.«
José machte ein unschlüssiges Gesicht. »Und diese Adoptionsgeschichte? Noemi heißt das Mädchen, nicht? Schon irgendwelche Anhaltspunkte?«
»Etliche, aber das erledigen wir nebenbei«, flunkerte ich und verschwieg, dass ich außer der Adresse dieses Ordens nicht viel in der Hand hatte. Mal abgesehen von einem mehr als großzügig bemessenen Honorar und der Versicherung Irene Winters, für jegliche Spesen aufzukommen. Die Zeiten, als sie kaum Geld zur Verfügung gehabt hatte, waren zweifelsohne vorbei.
»Na ja, so ein Wochenende wäre schon nicht übel«, lenkte endlich José ein und starrte grübelnd auf das unberührte Zigarettenpäckchen.
»Dann ruf Fiona an, jetzt gleich!«
Er quittierte meine Ungeduld mit einem genervten Blick, nestelte aber dennoch sein Handy hervor. Während er mit Fiona sprach, lehnte ich mich zurück, schloss die Augen und hielt mein Gesicht in die wärmende Junisonne. Kinderlachen drang an mein Ohr, die leise Unterhaltung zweier vorbeispazierender Mütter. Weiter entfernt bellte ein Hund, über uns rauschten sanft die Baumkronen. Ich versuchte, nicht an die brutalen Ereignisse zu denken, die vor einiger Zeit genau hier in diesem Park stattgefunden hatten. Ein Fall, der mich auch nach seiner Lösung noch lange beschäftigt
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