Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
das Gelände, sodass die unterste Fensterreihe auf einer Höhe lag, die ohne Leiter nicht zu erreichen war. Es gab eine Hintertür, die verriegelt war, daneben führte eine Kellertreppe in einen Schacht hinunter. Auf dem obersten Treppenabsatz entdeckten wir einige übergroße Pappbecher von McDonald’s und ein halbes Dutzend schwarzer Stummel.
»Calimocho« , stellte José mit angeekelter Grimasse fest, nachdem er an einem der Becher gerochen hatte. »Cola mit Rotwein gemischt. Damit besaufen sich spanische Jugendliche, dazu wird gekifft, und zwar nicht zu knapp.«
Er stieg über den Abfall hinweg, bevor er plötzlich stutzte und dann zielsicher ganz in den Schacht hinunterging.
»Die Tür ist aufgebrochen!«, ließ er mich wissen und drückte die Klinke herunter.
»Pass auf, vielleicht ist das Haus besetzt«, flüsterte ich ihm zu, nachdem ich ihn eingeholt hatte. Doch er hatte den Keller bereits betreten.
»Vor irgendwelchen ungewaschenen Teenies, die wir beim Rumfummeln ertappen, fürchte ich mich nicht!«
Die Luft drin war kühl und feucht, es roch erdig, ein wenig nach Marihuana und kaltem Rauch, am meisten aber nach Müllkippe. Stumm wies José auf einen verwitterten Tisch direkt neben der Tür, auf dem etliche hellgelbe Tetrapaks aus dem Discounter standen. Der so verkaufte Rotwein war derart billig, dass der Produzent sich nicht einmal einen Namen dafür hatte leisten können.
In einer Ecke waren zwei zerfledderte Matratzen rechtwinklig aneinandergeschoben. Auf einem unordentlichen Bündel Kleider lag ein abgegriffenes Harry-Potter-Taschenbuch, auf dem Boden ein überquellender Aschenbecher, umringt von Stummeln selbst gedrehter Zigaretten. Halb abgebrannte Kerzen steckten in Flaschenhälsen, überall waren zerbrochene Plastikbecher verstreut.
Angewidert verzog ich das Gesicht. »Wieso sind die nicht rauf? Wenn das Haus doch eh leer steht?«
»Damit man nachts von außen das Licht nicht sieht? Ist ja eine ziemlich feine Gegend, da würde es den Nachbarn sicher auffallen, wenn sich jemand in der leer stehenden Klinik rumtreiben würde. Aber wer weiß schon, was in einem bekifften Teeniehirn abgeht!«
Ich suchte den Lichtschalter und kippte ihn um. Nichts geschah.
»Der Strom ist abgestellt.«
»Ich habe eine Scheinwerfer-App auf meinem Handy installiert.« José nestelte sein Smartphone hervor. »Endlich findet sich ein Verwendungszweck dafür!«
Er leuchtete mit dem erstaunlich hellen Lichtkegel in den hinteren Teil des Kellers. Dort befanden sich etliche mit Holzlatten abgetrennte Abteile, die meisten davon leer geräumt, in manchen stapelte sich Gerümpel.
»Hier finden wir seine Unterlagen sicher nicht«, grummelte José.
»Als Versteck wäre der Keller natürlich perfekt, wir bräuchten allerdings Tage, um alles zu durchsuchen. Aber ich möchte mit Sánchez selbst reden.«
»Wozu eigentlich? Nach seinem Abgang fanden ja im Spital keine Adoptionen mehr statt.«
»Aber im Orden! Noemi wurde zwei Jahre danach an Frau Winter verkauft. Und da weder die ehrwürdige Mutter noch Schwester Ignacia mit der Wahrheit rausrücken wollen, bin ich gezwungen, auf andere Weise herauszufinden, wo das Mädchen geboren wurde. Denn dort müssten sich auch die Unterlagen zur Adoption finden. Ich vermute, dass uns Sánchez etwas dazu sagen kann. Immerhin hängt seine Nummer in der Wohnung der Nonnen, was durchaus bedeuten könnte, dass sie auch nach 1995 noch in Kontakt standen.«
Zweifelnd wiegte José den Kopf. »Alle, die wir bisher auf diese Geschichte angesprochen haben, waren erstaunlich vergesslich, Oberschwester Maria ausgenommen. Hoffen wir, dass die grauen Zellen des Herrn Doktor a. D . etwas besser in Schuss sind.«
»Was ist eigentlich mit diesen Zeitungsberichten, von denen die Oberschwester gesprochen hat?«
»Ich hab nicht mehr dran gedacht.« José warf einen Blick auf sein Handy. »Wir müssen allerdings rauf, hier gibt’s noch weniger Empfang als vor dem Spital.«
Nach kurzem Suchen entdeckten wir die Treppe ins Erdgeschoss hinter einer geschlossenen Tür und stiegen vorsichtig hinauf.
Es sah aus, als hätte Doktor Sánchez die Klinik Hals über Kopf verlassen. Ein Bürostuhl war mitten in den Eingangsbereich gerollt, Schränke standen offen und Schubladen waren herausgerissen, die bunten Bonbons in der Schüssel auf dem Empfangstresen bildeten einen klebrigen Klumpen. Eine einsame Kaffeetasse war auf einem der beiden Schreibtische zurückgelassen worden, sie war – wie alles andere
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