Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
Luzern. Meine Mutter ist Schweizerin und wollte, dass ich eine solide Ausbildung erhalte. Was auch immer das bedeutet. Dort habe ich dann José kennengelernt.« Sie blickte zu José hinüber, doch der schaute immer noch demonstrativ weg. Aus diesem Grund bemerkte er auch das spöttische Lächeln nicht, mit dem sie ihn bedachte. Was auch immer zwischen den beiden vorgefallen war, mit dieser einen Ohrfeige war die Sache für Mónica erledigt.
»Das muss ziemlich genau vor fünfzehn Jahren gewesen sein. Wir haben uns auf der Stelle verliebt und waren fast zwei Jahre zusammen, bis er sich eines Tages einfach nicht mehr meldete. Freunde haben mir dann erzählt, er sei zurück nach Zürich gezogen und habe da eine neue Freundin …«
»Wenn ihr mit eurem Kaffeekränzchen fertig seid, würde ich mich gern mit diesem Sánchez befassen.« Schwungvoll drehte sich José auf seinem Stuhl zu uns hin.
Mo verstummte und starrte ihren Ex mit weit aufgerissenen Augen an. »Sánchez? Von welchem Sánchez sprichst du? Etwa von Doktor Alberto Sánchez?«
José und ich wechselten einen verdutzten Blick. In unserer Verblüffung über das unerwartete Aufeinandertreffen hatten wir Mo noch gar nicht gefragt, was sie eigentlich in der leeren Klinik zu suchen hatte.
»Genau von dem«, bestätigte ich vorsichtig.
»Und was wollt ihr von ihm?«
Ich erklärte es ihr in knappen Worten.
»Das ist ja ein Ding!«, stieß sie hervor. »Den suche ich nämlich auch, schon seit Jahren. Nur weiß kein Mensch, wo er steckt. Ich habe damals einen Bericht im Público über ihn und diese Klinik verfasst, seither ist er wie vom Erdboden verschluckt.«
»Das warst du?«
»Meine erste größere Reportage. Doch ich war blutjung, wenig erfahren und zudem eine Frau, man nahm mich nicht besonders ernst.« Mo verzog das Gesicht.
»Der Bericht hat zumindest Sánchez aufgeschreckt«, wandte ich ein.
»Der einzige Beweis, dass das Blatt überhaupt gelesen wurde«, grinste Mo.
Eine mitreißende Energie ging von der zierlichen Frau aus. Das rotbraune Haar trug sie kurz geschnitten und etwas zerzaust, Sommersprossen bedeckten ihre Nase. Ihre Füße steckten in schwarzen Ballerinas, nur das bordeauxrote Kleid wirkte etwas zu formell für einen ganz gewöhnlichen Freitagnachmittag.
»Worum ging es in dem Artikel?« Bevor wir von Mo unterbrochen worden waren, hatte José angetönt, dass Sánchez Adoptionen illegal durchgeführt hatte. Es konnte gut sein, dass Mos Nachforschungen der Schlüssel zu meinem eigenen Fall waren.
»Da muss ich weit ausholen«, seufzte Mo. Sie lehnte sich etwas vor und presste die Fingerspitzen aneinander. »Ihr habt sicher von diesem Babyskandal gehört, der Spanien erst kürzlich erschüttert hat.«
»Natürlich!« Zum ersten Mal hatte ich vor etwa zwei Jahren von den unglaublichen Geschehnissen gelesen, seither wurden sie von der Presse in unregelmäßigen Abständen aufgewärmt, da nun allmählich das ganze Ausmaß ersichtlich wurde und sich die ersten Täter vor Gericht verantworten mussten. Dabei handelte es sich ausnahmslos um Nonnen und Ärzte. Ich ärgerte mich, dass ich die Verbindung nicht längst selber erkannt hatte. Noemis Geschichte war vielleicht gar nicht so einzigartig, wie ich angenommen hatte.
»Jahrelang wurde in ganz Spanien und namentlich in drei Spitälern Madrids systematischer Kinderhandel betrieben: in der Klinik San Ramon sowie in den Spitälern Santa Christina und O’Donnell .« Mo erhob sich und stellte sich hinter ihren Stuhl, die Hände auf der Rücklehne abgestützt. »Alleinstehenden Müttern, viele davon aus armen Verhältnissen, zerrütteten Beziehungen oder mit unehelichen Schwangerschaften, wurden in diesen Institutionen die neugeborenen Kinder weggenommen und an wohlhabende katholische Familien verkauft. Den Müttern wurde dabei erklärt, ihre Kinder seien nach der Geburt eines plötzlichen Todes gestorben, das Spital kümmere sich um die Beerdigung. Ärzte und Klinikbetreiber arbeiteten dabei eng mit den Ordensschwestern zusammen, es war nichts anderes als organisiertes Verbrechen.«
»Aber so was kann man doch nicht jahrelang vor der Öffentlichkeit geheim halten? Hat denn keine dieser Frauen aufbegehrt?«
»Natürlich haben sie sich gewehrt, aber genützt hat es nichts! Ihre Beschwerden an die amtlichen Stellen wurden irgendwo abgelegt und vergessen, die wenigen Ermittlungen, die in Angriff genommen wurden, bald verschlampt. Keiner hat etwas unternommen, obwohl viele davon gewusst haben.
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