Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
Denn niemand wollte sich mit der katholischen Kirche anlegen, die ziemlich tief in den Fall verstrickt war. Zudem reicht diese Art von Kinderhandel in Spanien weit zurück, die Wurzeln finden sich in der Franco-Ära. Damals war sogar der Staat involviert.«
»Der Kinderhandel wurde staatlich unterstützt?«
»Sogar initiiert! Die rechtsgerichtete Diktatur von General Francisco Franco ließ Oppositionelle gefangen nehmen oder gleich hinrichten. Die in Gefangenschaft geborenen Babys dieser ›linken Verräterinnen‹ sowie Kinder, die gezielt aus regimefeindlichen Familien entführt worden waren, wurden liniengetreuen Adoptiveltern zur ›Umerziehung‹ zugeteilt. Nach dem Ende der Franco-Diktatur 1975 wurde der Kinderhandel aber keineswegs eingestellt. Vielmehr begann er erst so richtig zu florieren, denn die verbrecherischen Netzwerke merkten rasch, dass sich damit Geld machen ließ. Viel Geld.«
»Was hat denn so ein Baby gekostet?«, erkundigte ich mich.
»Um die zweihunderttausend Peseten, das wären heute etwa fünftausend Euro. Man schätzt, dass bis Mitte der Neunzigerjahre rund dreihunderttausend Babys geraubt und verkauft worden sind, zum Teil sogar unter Mithilfe der zuständigen Adoptionsämter, die kinderlose Paare an die Nonnen weitervermittelt haben.«
»Und es gab keinen landesweiten Aufschrei?« Ich versuchte, mir vorzustellen, was in der Schweiz geschehen würde, käme ein solcher Skandal ans Tageslicht.
»Damals noch nicht«, erklärte Mo. »Der Staat hielt sich bedeckt und die Kirche tat, was sie in heiklen Situationen immer tut: Sie saß die Krise aus, Vorwürfen begegnete sie mit Schweigen.«
»Und keine dieser Frauen hat Anklage erhoben?«
»Selbst wenn eine der betroffenen Frauen den Mut aufgebracht hätte, gegen den spanischen Staat vorzugehen, sie hätte kaum einen Anwalt gefunden. Der Amtsweg wäre unvorstellbar langwierig und kostenintensiv gewesen. Denn nach dem Tode Francos hatte die neue Regierung sofort Amnestiegesetze erlassen, die eine strafrechtliche Verfolgung von Verbrechen aus dieser Zeit nahezu unmöglich machten. Zudem waren viele Geburtsurkunden gefälscht worden, sodass es schwierig war, stichhaltige Beweise vorzulegen. Die meisten involvierten Ärzte oder Ordensschwestern konnten, oder vielmehr wollten, sich nicht mehr erinnern und die Kooperation der Behörden war sozusagen inexistent. Der erste Untersuchungsrichter, der es gewagt hat, in diesem dunklen Kapitel der spanischen Geschichte zu stochern, wurde von der Justiz umgehend mit einem Berufsverbot kaltgestellt.
Erst nachdem sich die Eltern der angeblich toten Kinder zu einer Vereinigung zusammengeschlossen und jahrelang darauf gedrängt hatten, wurden erste ernsthafte Ermittlungen aufgenommen. Dann kamen nach und nach Anzeigen von betroffenen Kindern hinzu, denen die vermeintliche Mutter auf dem Sterbebett die Herkunft gebeichtet hatte. Allein im letzten Jahr waren es tausendfünfhundert Fälle.«
Ich stand auf, trat ans Fenster und blickte auf den Rasen hinter der Klinik.
Mos Erläuterungen hatten mich aufgewühlt und wütend gemacht. Obwohl ich normalerweise der Meinung war, gewisse Leute machten es sich etwas zu einfach, blindlings auf die katholische Kirche einzuprügeln – diesmal war ich auf deren Seite. Im Namen Gottes waren Familien auseinandergerissen und Kinder von ihren Müttern getrennt worden, man hatte Frauen und Männer ins Unglück gestürzt, indem ausgerechnet die Vertreter der Kirche geraubt, gefälscht, gelogen und sich unredlich bereichert hatten. Dieses scheinheilige Getue widerte mich an, die christlichen Werte, die hochgehalten wurden wie Banner, während jeder noch so kleine Fetzen an Interna, der an die Öffentlichkeit drang, davon zeugte, dass nicht einmal die Gläubigsten danach lebten.
»Ich befürchte, das ist noch nicht alles gewesen?« Ich wandte mich um und ging zurück zu meinem Stuhl.
»Das war erst der Anfang«, bestätigte Mónica meine Vermutung.
»Dann brauche ich einen Drink!«
José, der während Mos Ausführungen auf den Boden gestarrt, dabei aber – wie ich aus Erfahrung wusste – aufmerksam zugehört hatte, rollte mit seinem Bürostuhl ein paar Meter zurück und begann, die Schubladen eines weißen Korpus unter dem Schreibtisch aufzuziehen.
»Amontillado, medium dry!« , rief er plötzlich und schwenkte triumphierend eine Flasche aus dunklem Glas. »Auf der Flucht zurückgelassen, vorhin von mir entdeckt.«
»Immerhin besser, als gar nichts zu trinken«,
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