Familientherapie ohne Familie
kommen.
Ich möchte Sie deshalb bitten, bis zu unserem nächsten Termin erst einmal nichts zu ändern. Lassen Sie alles – auch Ihre Essensgewohnheiten – so, wie es ist. Ich habe nur eine
Bitte: Achten Sie bis zu unserem nächsten Termin auf die Momente, wo Sie sich wohlfühlen, auf Gelegenheiten, wo Sie sorglos sind. Notieren Sie sich das und berichten Sie mir das nächste Mal darüber.«
In der folgenden Stunde wirkt Nicole sehr viel fröhlicher. Tatsächlich konnte sie sich aber an kaum eine Ausnahmesituation erinnern, in der es ihr gut gegangen ist. Lediglich einmal, als sie mit dem Freund zusammen gewesen ist, habe sie sich wohlgefühlt. In dieser Stunde wird aber ein anderes Thema sehr zentral: ihre schulische Situation. Der Vater arbeitet in einem handwerklichen Beruf, die Mutter habe keine Berufsausbildung, und auch alle Verwandten seien in handwerklichen oder kaufmännischen Berufen tätig. Sie selbst sei nun die erste Aufsteigerin, die erfolgreich das Abitur anstrebe. Sie empfinde sich deshalb in einem inneren Konflikt. Ihre Befürchtung sei, von den anderen als hochnäsig, arrogant und eingebildet angesehen zu werden. Die Essstörung dagegen wirke wie ein Puffer, der sie vor dem Neid der Familie schütze. Schulisch erfolgreich sein und zugleich gut aussehen, das sei zu viel!
In der Zusammenfassung der zweiten Stunde lobt die Therapeutin Nicole, da sie eine sehr kluge Entscheidung getroffen habe. Sie habe zurzeit der schulischen Seite den Vorrang eingeräumt. Angesichts des nahenden Abiturs sei das auch eine richtige Einstellung. Die Therapeutin lässt offen, ob sie die Befürchtungen der Patientin bezüglich der Eifersucht der Familie teile. Sie erklärt aber, dass Nicole sich wohl im Augenblick nicht vorstellen könne, schulisch erfolgreich und zugleich attraktiv zu sein. Aus Rücksicht darauf solle sie sich vorerst mit ihrem jetzigen Äußeren abfinden.
In der folgenden Sitzung, einige Wochen später, hat Nicole deutlich abgenommen. Sie habe eine Diät gemacht, die erstaunlicherweise erfolgreich verlaufen sei. Außerdem wolle sie, so erklärt sie unternehmungslustig, nun nicht mit den Eltern, sondern mit dem Freund in Urlaub fahren.
Die Therapeutin gratuliert ihr zu dem Gewichtsverlust, äußert allerdings starke Bedenken. Sie befürchte, es werde ihr bald wieder schlechter gehen, da sie sich selbst mit der schnellen Ablösung überfordere. Gleichzeitig befürchte sie, dass sie aus schlechtem Gewissen heraus den Urlaub mit dem Freund nicht richtig genießen könne.
Nicole widerspricht in einer spontanen Reaktion der Meinung der Therapeutin.
Aus dem Urlaub zurück, erzählt sie, dass sie, im Gegensatz zur Meinung der Therapeutin, sehr wohl die Zeit mit ihrem Freund ohne schlechtes Gewissen habe genießen können. Da habe sich die Therapeutin geirrt...
ANHANG
Anmerkungen
Einführung
1 Siehe Stierlin, H. (1976)
2 Die Trennung zwischen den Betrachtungsebenen kann in der Realität natürlich nicht immer so klar gezogen werden, da beide in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen. Die gegenwärtige Lage eines Menschen basiert auf seiner Lebensgeschichte, und umgekehrt ist die Einschätzung der Vergangenheit von der aktuellen Lage abhängig.
3 Zum Beispiel Schlippe, A. v. und Schweitzer J. (2003/2006)
Von der Systemtheorie zur systemischen Therapie
1 Ich beziehe mich bei meinen Ausführungen vor allem auf den ausgezeichneten Artikel von G. Guntern (1980), der die Zusammenhänge sehr klar darstellt.
2 Zur systemischen Betrachtungsweise der Entwicklungsgeschichte siehe Maturana, H./Varela, F. (1987)
3 Guntern, G. (1980), S. 5
4 Nach Professor Dr. Walter Haefili in der SWR-Sendung Praxis Dr. Weiss vom 20.12.2007
5 Zitiert nach Ansbacher, H. L. und Ansbacher, R. R. (1972), S. 316
6 Ebd., S. 322
7 Frankl benutzt hier den Ausdruck »paradoxe Intention«. Später wird von der »paradoxen Intervention« die Rede sein. Der Unterschied in der Bezeichnung ergibt sich, da Frankl auf die Absicht des Therapeuten (seine Intention) abhebt, die paradox gemeint ist. Im Unterschied dazu ist die »paradoxe Intervention« eine von vielen Interventionen, eben eine paradoxe.
8 Frankl, V. (1959), S. 162 f.
9 Ebd., S. 170 f.
10 Bateson, G. (1959, 1969)
11 Stierlin, H. (1959)
12 Watzlawick, P. u.a. (1969, 1974), Watzlawick, P. (1977)
13 Watzlawick, P. und Coyne, J. (1979), S. 148 f.
14 Stierlin, H. (1974, 1975, 1978), Stierlin u.a. (1977)
15 Siehe Guntern, G. (1980), S. 27 f. und Schweitzer, J. (2007), S.
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