Fanal des Blutes
Zwar fühlten sich die Laken wieder angenehm weich an, und es duftete reinlich, aber die Tatsache, daß ihre Handgelenke in breiten Manschetten steckten, die am Gestänge des Bettes befestigt waren, sprach eindeutig dagegen.
Benommen blickte Seven sich um. Bis auf das Bett, in dem sie lag, befand sich nichts, aber auch gar nichts in dem winzigen Raum, der gerade mal die Größe einer Abstellkammer hatte. Die Wände waren bis in Türhöhe gekachelt, die beiden winzigen Fenster, durch die diffuses Licht hereindrang, vergittert.
Wo war sie? In einem Gefängnis?
Vorsichtig bewegte Seven den Kopf hin und her. Sie fühlte sich eigenartig benebelt, als wabere eine dicke Dunstwolke in ihrem Hirn hin und her. Mühsam klaubte sie ihre Erinnerungen zusammen. Als verschwommene Traumbilder tauchten sie nach und nach vor ihrem inneren Auge auf.
Einen weiten Weg hatte sie in der Nacht zurückgelegt, quer durch Sydney, zu Fuß und mit dem Bus. Die Kreatur in ihr hatte sie nicht daran gehindert. Warum auch? Bewegung an frischer Luft war ja schließlich gut für die Schwangerschaft.
Dann endlich hatte sie die Brücke über den Port Jackson erreicht gehabt. Und der Kampf mit dem Monster in ihrem Bauch hatte begonnen. Sie hatte ihn mit aller verbliebenen Kraft geführt, und es war ihr tatsächlich gelungen, das Geländer zu erklimmen.
Doch plötzlich war jemand neben ihr aufgetaucht und hatte sie heruntergezerrt. Sie war gestürzt und hatte das Bewußtsein verloren. Als sie wieder zu sich gekommen war, hatte sie in einem fahrenden Auto gesessen.
Sie hatte noch versucht, dem fremden jungen Mann neben ihr, der sie mit schreckgeweiteten Augen angestarrt hatte, klarzumachen, was mit ihr los war. Vergebens; sie hatte kein einziges klares Wort hervorgebracht. Wahrscheinlich hielt er sie jetzt für eine entlaufene Irre .
Das Wort fand einen merkwürdigen Nachhall in Seven.
War es das, wo sie sich aufhielt? Eine Irrenanstalt?
Natürlich, verhinderte Selbstmörder wurden dort eingeliefert. Sichergestellt, vor sich selbst beschützt und mit Medikamenten betäubt!
Entsetzt stöhnte sie auf, zerrte an den Manschetten. Sie öffnete schon den Mund, wollte zu schreien anfangen . aber dann preßte sie die Lippen schnell wieder fest aufeinander.
Nein, nicht schreien! Das würde nicht helfen, im Gegenteil! Sie mußte sich ruhig verhalten, vernünftig, kooperativ. Sie mußte die Ärzte davon überzeugen, daß ihr Suizidversuch auf der Brücke lediglich eine Kurzschlußreaktion gewesen war, die sich nicht noch einmal wiederholen würde. Sonst würde sie niemals hier herauskommen.
Also zwang Seven sich zur Ruhe. Sie schloß die Augen und blieb still liegen. Irgendwann würde jemand kommen und nach ihr sehen. Er würde sich wundern, sie bei vollem Bewußtsein und klarem Verstand vorzufinden.
»Das ist doch auch in deinem Sinne, nicht wahr?« murmelte sie vor sich hin.
Daß sie in diesem Moment zum ersten Mal mit dem Geschöpf in ihrem Bauch geredet hatte, so wie viele werdende Mütter mit ihren ungeborenen Babys reden, wurde ihr erst viel später bewußt.
Seven hatte recht gehabt. Es dauert nicht allzu lange, bis sich die Tür öffnete und eine Krankenschwester im weißen Kittel hereinkam. Überrascht sah sie, daß die Patientin wach im Bett lag.
»Guten Morgen!« grüßte Seven lächelnd.
»Guten Morgen. Wie geht es Ihnen?« Mißtrauen schwang in der Frage mit.
»Gut. Wo bin ich hier?«
»In der Hasselmann-Klinik für Psychiatrie und Neurologie.«
Seven nickte. »Ich ... dachte es mir schon. Ein junger Mann hat mich hergebracht, nicht wahr?«
Die Schwester nickte.
»Ich muß ziemlich durchgedreht gewesen sein.«
»Deshalb sind Sie ja hier«, bestätigte die Schwester trocken.
»Aber jetzt geht es mir wieder gut!« Seven hob den Kopf und sah sie eindringlich an. »Ich war nur so durcheinander, weil ... weil mein Freund das Baby nicht will. Ich war verzweifelt. Aber jetzt habe ich eine Entscheidung getroffen. Ich trage das Baby aus - ob nun mit oder ohne ihn.« Sie bewegte die Hände in den Manschetten ein wenig. »Können Sie mir die nicht abnehmen? Es ist so . furchtbar unwürdig.«
Die Schwester hob die Schultern. »Das kann ich nicht entscheiden. Das müßte der Stationsarzt anordnen.«
»Ach, dann holen Sie ihn doch bitte, ja?« Ihr flehender Blick hätte einen Stein erweicht.
»Also gut!«
Ein paar Minuten später kam die Schwester mit dem diensthabenden Arzt, einem schmächtigen Männlein mit Nickelbrille und Halbglatze,
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