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Fandorin

Fandorin

Titel: Fandorin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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mit tränenreichen Grabreden ist Ihnen sicher. Ich weiß doch, wieviel Wert Sie darauf legen. Und hören Sie endlich auf, mich anzugucken wie ein dummes Kalb!«
    Fandorin sah mit Schrecken, daß der Chef den Verstand verloren haben mußte; er unternahm einen verzweifelten Versuch, ihn aus seiner jähen geistigen Umnachtung zurückzuholen, und brüllte: »Chef, ich bin es, Fandorin! Hallo, Herr Brilling! Herr Staatsrat!«
    »Wirklicher Staatstat, wenn ich bitten darf«, sagte Brillingund grinste schief. »Sie sind nicht auf dem neuesten Stand, Fandorin. Per kaiserlichem Erlaß befördert am siebten Juni. Für die erfolgreiche Durchführung einer Operation zur Unschädlichmachung der terroristischen Vereinigung ›Asasel‹. Sie dürfen mich also mit Eure Exzellenz ansprechen.«
    Brillings dunkle Silhouette vor dem Fenster wirkte wie ein Scherenschnitt auf grauem Papier. Die nach allen Seiten strebenden toten Äste der Ulme hinter seinem Rücken bildeten ein tückisches Spinnennetz. Eine Spinne, eine Giftspinne! blitzte es durch Fandorins Kopf. Sie hat ihr Netz gewebt, und ich stecke drin.
    Brillings Gesicht verzerrte sich wie im Schmerz, und Fandorin begriff, daß der Chef einen Grad an Entschlossenheit erreicht hatte, der ihn gleich würde abdrücken lassen. Eine Eingebung schoß ihm durch den Kopf, die augenblicklich zu einer Kette kleinster Gedankensplitter zerfiel: Die Herstal wird per Knopfdruck entsichert, der Knopf geht straff, halbe Sekunde, Viertelsekunde, wie soll ich das schaffen, wie soll ich …
    Schrill aufheulend, die Augen zusammengekniffen, hechtete Fandorin nach vorn, rammte den Kopf gegen das Kinn seines Chefs.
    Fünf Schritt, nicht mehr, waren sie voneinander entfernt gewesen. Das Klicken der Entsicherung hatte Fandorin nicht gehört. Der Schuß aber ging in die Decke. Beide, Brilling ebenso wie Fandorin, fielen um und stürzten über den niedrigen Sims aus dem Fenster.
    Mit Wucht prallte Fandorin bäuchlings gegen den Stamm der toten Ulme, dann rutschte er, Äste abbrechend und sich das Gesicht schürfend, abwärts. Der Aufschlag war so hart, daß ihm die Sinne schwinden wollten, doch der zähe Überlebensinstinkt ließ es nicht zu. Fandorin stemmte sich auf die Knie und schaute wild um sich.
    Der Chef war nirgends zu sehen. Dafür entdeckte er an der Hauswand die kleine schwarze Herstal-Pistole. Wie eine Katze sprang er, immer noch auf allen vieren, darauf zu, krallte sie sich und drehte den Kopf nach allen Seiten.
    Brilling war verschwunden.
    Auf die Idee, nach oben zu schauen, kam Fandorin erst, als er ein gepreßtes Röcheln vernahm.
    Es sah absurd und gespenstisch aus, wie Brilling in der Luft hing. Seine blankgeputzten Halbstiefel zappelten über Fandorins Kopf. Unter dem Wladimir-Kreuz, da, wo sich ein roter Fleck auf der gestärkten Hemdbrust ausbreitete, ragte ein spitzer, abgebrochener Ast heraus, der den hochverehrten Generalmajor regelrecht durchbohrt hatte. Das Gräßlichste aber war, daß die hellen Augen Fandorin ansahen.
    »Ekelhaft«, hörte er den Chef deutlich sagen, das Gesicht vor Schmerz oder Abscheu verzerrt. »Ist das ekelhaft …« Und dann, stöhnend, mit ganz fremd scheinender Stimme:
    »A-sa-sel«
    Ein eiskalter Schauer überlief Fandorin vom Scheitel bis zur Sohle. Brilling röchelte noch eine halbe Minute und verstummte.
    Als hätten sie nur darauf gewartet, klapperten jetzt Hufe und holperten Wagenräder über das Pflaster vor dem Haus. Die Kutschen mit den Gendarmen rollten an.
     
    Generaladjutant Lawrenti Arkadjewitsch Misinow, Chef der Dritten Abteilung und des Gendameriekorps, rieb sich die vor Müdigkeit roten Augen. Die goldenen Achselschnüre an seiner Paradeuniform klingelten leise. Nicht einmal zum Umziehen hatte er Zeit gefunden seit dem gestrigen Abend, als ihn ein Eilkurier vom Ball aus Anlaß des Namenstages Seiner Durchlaucht des Großfürsten Sergej Alexandrowitsch geholthatte, geschweige zum Schlafen. Denn seither war die Hölle los.
    Mißmutig blickte der General auf den Jungen, der mit zerrauftem Haarschopf neben ihm saß und die geschundene Nase in die Papiere steckte. Zwei Nächte hatte der nicht geschlafen und schien frisch wie der junge Morgen. Benahm sich, als hätte er sein Lebtag in hochherrschaftlichen Kabinetten gesessen. Gleichviel! Sollte er ruhig noch ein bißchen weiterzaubern. Hingegen Brilling! Das wollte einem einfach nicht in den Kopf.
    »Wie steht’s, Fandorin, sind Sie bald fertig? Oder hat Sie schon wieder eine von Ihren Ideen

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