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Fandorin

Fandorin

Titel: Fandorin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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auf Abwege geführt?« fragte der General streng; was ihn selbst betraf, so waren nach der durchwachten Nacht und dem erschöpfenden Tag keine Ideen mehr zu erwarten.
    »Gleich, Hohe Exzellenz, gleich«, murmelte der Milchbart. »Fünf Einträge hab ich noch. Ich hatte Ihnen ja gleich prophezeit, daß die Liste chiffriert sein würde. Und schauen Sie, wie raffiniert! Die Hälfte der Buchstaben haben wir noch nicht heraus, und ich kann mich auch nicht an alle Namen, die da standen, entsinnen. Aha, hier haben wir den Oberpostdirektor aus Dänemark, wer sagt’s denn! Und der hier? Der erste Buchstabe ein Kreuz, also nicht entschlüsselt, der zweite auch ein Kreuz, der dritte ein M, der vierte noch ein M, dann wieder ein Kreuz, dann ein N, ein D, das fraglich ist, und am Ende zwei Lücken. Sehen Sie, was sich ergibt: ++MM+ND?++.«
    »Mumpitz!« Generaladjutant Misinow seufzte. »Brilling hätte es sofort heraus gehabt. Sind Sie wirklich sicher, daß das bei ihm nicht nur ein Koller war? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß …«
    »Absolut sicher, Hohe Exzellenz«, beteuerte Erast Fandorinzum wer weiß wievielten Mal. »Und ich habe deutlich gehört, wie er das Wort Asasel ausgesprochen hat. Stopp! Ich hab’s! In der Liste der Beshezkaja gab es einen Commander. Das muß er sein.«
    »Commander? Das ist ein Rang bei der britischen und amerikanischen Flotte«, wußte der General zu erläutern. »Er entspricht unserem Kapitän im zwoten Rang.« Wütend begann er im Zimmer auf und ab zu gehen. »Asasel, Asasel, was brockt uns dieser Asasel noch alles ein! Das hieße ja, wir wären so schlau wie am Anfang! Brillings Moskauer Ermittlungen wären keinen Heller wert! Alles Blödsinn, Schwindel, Fiktion – die Terroristen genauso wie das Attentat auf den Thronfolger? Nur um die Spuren zu verwischen? Hat er uns gar falsche Leichen angedreht? Oder ein paar echte Nihilistenbrüder als Köder? Von ihm darf man alles erwarten, er war ein sehr, sehr fähiger Mann. Himmelherrgott, wo bleiben die Durchsuchungsberichte! Wie lange wollen die denn noch wühlen?«
    Die Tür schob sich einen Spalt auf, darin erschien ein Kopf mit goldener Brille und blasser, magerer Physiognomie.
    »Hohe Exzellenz? Rittmeister Beloserow!«
    »Na endlich! Wie gerufen. Soll reinkommen.«
    Das Kabinett betrat, müde blinzelnd, ein nicht mehr ganz junger Gendarmerieoffizier, den Fandorin schon am gestrigen Abend in Cunninghams Haus gesehen hatte.
    »Wir haben sie, Hohe Exzellenz«, rapportierte er leise. »Erst hatten wir Haus und Garten in Planquadrate aufgeteilt, alles umgewühlt und durchkämmt – Ergebnis gleich null. Dann ist Agent Eulensohn, ein Detektiv mit besonderem Riecher, auf die Idee gekommen, im Asternatskeller die Wände abzuklopfen. Und was glauben Sie, Lawrenti Arkadjewitsch? Wir haben ein Geheimverlies gefunden, eine Artphotographisches Laboratorium, und darin zwanzig Kästen zu je an die zweihundert Karteikarten. Seltsam verschlüsselt, sieht aus wie Hieroglyphen, ganz anders als in dem Brief. Ich habe angeordnet, daß die Kästen hergebracht werden. Außerdem habe ich die komplette Chiffrierabteilung aus den Betten geholt, sie gehen sogleich an die Arbeit.«
    »Ausgezeichnet, Beloserow, ganz ausgezeichnet« lobte der General, dessen Gesichtszüge sich aufgehellt hatten. »Und den mit dem Riecher sollten Sie zur Auszeichnung vorschlagen. Nun denn, begeben wir uns mal in die Chiffrierstube. Kommen Sie mit, Fandorin, das wird Sie doch auch interessieren. Hier können Sie anschließend weitermachen, das hat ja jetzt Zeit.«
    Sie stiegen zwei Stockwerke höher und schritten eilig einen Korridor entlang, der kein Ende nehmen wollte. Als sie schließlich um eine Ecke bogen, kam ihnen ein Beamter, mit den Armen rudernd, entgegengerannt.
    »Ein Unglück, Hohe Exzellenz, ein Unglück! Die Tinte verblaßt vor unseren Augen, wir wissen nicht, was los ist!«
    Misinow fegte in einem Tempo davon, das man seiner massigen Figur nicht zugetraut hätte; die goldenen Kantillen an seinen Epauletten flatterten wie Mottenflügel. Beloserow und Fandorin ließen es jedoch an Ehrerbietung fehlen und überholten den Vorgesetzten, um als erste durch die hohe weiße Flügeltür zu stürmen.
    In dem großen, mit Schreibtischen vollgestellten Raum herrschte helle Aufregung. Ein gutes Dutzend Beamter flitzte um die Unmengen säuberlich beschnittener weißer Kärtchen, die sich auf den Tischen stapelten. Fandorin griff nach dem erstbesten: Die Schriftzeichen, die

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