Fang schon mal ohne mich an - Phillips, C: Fang schon mal ohne mich an
etwas“, sagte Seth, bevor Jessie etwas sagen konnte. Sein Tonfall machte ihr Angst. „Nachdem mein Vater aus dem Haus stürmte, weinte meine Mutter, und ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich verschwand erst mal in meinem Zimmer, bevor ich hinunterging, um mit ihr zu sprechen, aber da war dein Vater schon da.“
Jessie nickte, immer noch ängstlich, weil sie nicht wusste, was als Nächstes kommen würde.
„Ich stand an der Tür und lauschte. Dein Vater war außer sich vor Wut, weil er meine Mutter nicht dazu gezwungen hatte, meinen Vater eher zu verlassen.“
„Das heißt, mein Vater wusste von den Misshandlungen.“ Jessie biss sich auf die Unterlippe.
Seth nickte. „Und Frank schwor, dass er, falls mein Vater meine Mutter noch einmal angreifen würde, ihn umbringen würde. Dabei hätte ich das sagen müssen. Ich hätte die Sache in die Hand nehmen müssen.“
„Es ist schon okay“, sagte sie hilflos. Ihr Herz schien vor Mitleid mit ihm zerbersten zu wollen.
Er sah ihr in die Augen. „Du musst wissen, dass ich nicht glaube, dass dein Vater meinen Vater umgebracht hat“, sagte er, bevor er schluchzend das Gesicht in den Händen verbarg.
„Psst. Ich verstehe dich.“ Sein Vater war nicht mehr da, und Seth fühlte sich schuldig, weil er ihn nicht mehr zur Rede gestellt hatte, bevor er starb, dachte Jessie.
Doch sie wusste, dass Seth seinen Vater trotz allem vermisste. Und dass er möglicherweise ein schlechtes Gewissen hatte, weil sein Vater seiner Mutter wehgetan hatte. Dieses Durcheinander zerriss Seth, und sie konnte nichts daran ändern, außer für ihn da zu sein.
Sie schluckte und hielt ihren Freund im Arm. Lange später, als sie sich ansahen, nachdem seine Tränen getrocknet waren, schwor sie ihm, dass sie niemals verraten würde, dass sie ihn hatte weinen sehen.
Nach ihrem Besuch bei Starbucks überraschte Molly Hunter mit der Bitte, sie bei der Kunstgalerie ihrer Freundin Liza abzusetzen. Obwohl er ihr von den Augen ablesen konnte, dass sie gerne dabei gewesen wäre, wenn er ihren Vater besuchte, hatte sie begriffen, dass sie dabei nur stören würde. Molly wusste, dass Hunter seinen Klienten beim ersten Mal alleine besuchen musste, aber sie machte ihm klar, dass sie trotzdem von jetzt an in den Fall mit eingebunden werden wollte.
In der Zwischenzeit, so sagte sie, würde sie sich um ihre ehrenamtlichen Aufgaben im Seniorenheim kümmern. Bevor Hunter zu seinem Treffen aufbrach, hatte ihn Molly Liza, einer freundlich lächelnden Brünetten vorgestellt, die älteren Menschen in der Seniorenresidenz Malunterricht gab.
Molly erklärte ihm ihre Rolle in diesem Zentrum bis ins Detail. Sie las den alten Menschen vor, spielte Karten oder unterhielt sich einfach nur mit ihnen. Wenn sie darüber sprach, begannen ihre Augen zu leuchten. Sie mochte diese Senioren und beklagte sich darüber, dass sie kaum etwas dazu beitragen konnte, ihnen die Zeit zu vertreiben. Hunter wusste es besser. Sie hörte ihnen nicht nur geduldig zu, wenn sie über ihre Probleme sprachen, sondern sie gab ihnen auch rechtliche Unterstützung, half ihnen, ihre Testamente zu verfassen, und beim Verkauf oder der Vermietung ihrer Häuser und Wohnungen.
Er hatte immer gedacht, er sei wild auf seine Pro-Bono-Fälle, die rechtliche Vertretung von armen Außenseitern, weil er selbst einmal so einer gewesen war. Hilflos dem strengen staatlichen Kinderschutzsystem ausgeliefert hatte er sich geschworen, nie wieder wehrlos zu sein und anderen zu helfen, die sich in so einer Lage befanden. Und nun stellte er fest, dass Molly diese Leidenschaft mit ihm teilte.
Das war eine neue Seite an ihr oder zumindest eine Seite, die er bislang noch nicht gekannt hatte. An der Universität hatten Hunter und Molly nur das eine Ziel gehabt, es zu schaffen. Da war nicht viel Zeit für ehrenamtliche Arbeit, tiefe Freundschaften oder andere Dinge übrig geblieben. Und so war es auch, als sie im letzten Jahr in seine Heimatstadt gezogen war. Sie hatte für die Immobilienabteilung einer Bank gearbeitet, aber kein Sozialleben gehabt. Sie war sehr auf ihre Familie konzentriert oder vielmehr auf das, was sie für einen neuen Anfang und eine Beziehung zu ihrer eigensüchtigen Mutter hielt.
Wenn Laceys Onkel das Vermögen geerbt hätte, hätte Molly vielleicht ihre glückliche Familie, die sie sich so sehr wünschte, bekommen. Doch Laceys wundersame Wiederauferstehung hatte die Chancen ihres Onkels zunichtegemacht. Und ohne diese Erbschaft war der
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