Fangschuss
Sonnenuntergang würde sich das Quartier beleben, die Lichter einschalten und sich herausputzen, bis es glitzern und glänzen würde wie eine alternde Varietésängerin. Oder irgendeine meiner Nachbarinnen. Und es würde auch genauso gurren, lachen, werben, locken und verführen, schwitzen und kreischen. So war der Kreis 4, eine laute, charmante, oft ein wenig vulgäre Frau, der man immer wieder gern verfiel und sich dabei nicht einzugestehen wagte, dass man sich ein klein wenig in sie verliebt hatte.
Doch im Moment war das Quartier noch müde, es trug ausgebeulte Trainingshosen und Flipflops, war ungeschminkt, hatte dunkle Ringe unter den Augen und Lockenwickler im Haar und trank lauwarmen Kaffee in einem der zwielichtigen Lokale.
Ich ging die wenigen Treppenstufen hoch und betrat Kemals Kiosk. Als ich eintrat, rief er wie immer: »Salam alaikum!«, legte eine Packung Parisienne Blau auf den Tresen und lächelte mich leutselig an. »Schönes Wetter heute!«
Er strahlte. Ich nickte.
»Du bist Kurde, nicht?«
»Inder.«
»Ah!«
Ich nickte. Er strahlte.
»Wie auch immer. Wir sind Brüder, Kurden, Inder, dasselbe Blut. Nicht wie die Schweizer.«
Ich lächelte unverbindlich und hoffte, dass er bald fertig war. Jedes Mal das gleiche Prozedere, der Mann hatte ein Gehirn wie eine zerstampfte Falafel. Plötzlich wurde seine Miene ernst, argwöhnisch blickte er sich um, als könnte uns ein unsichtbarer Feind belauschen.
»Du Moslem?«, flüsterte er halblaut. Darauf war ich vorbereitet. Ich schlenkerte mit dem Kopf, diese typische indische Bewegung, bei der der Hals steif bleibt, während der Schädel seitwärts wackelt, als wäre er nicht richtig festgemacht. In Indien konnte das allerhand heißen, von »Ja« über »Nein« bis »No problem« oder »Wir werden sehen«. Hier meinte ich eindeutig »Leck mich am Arsch«. Kemal war zufrieden mit dieser Antwort, er nickte und lächelte und guckte mich glücklich an. »Allahu Akbar!«, jubelte er, und ich schlenkerte noch eine Runde mit dem Kopf. Dann legte ich einen Zehner auf den Tresen und hoffte auf baldiges Rückgeld. Doch Kemal war noch nicht fertig. Er lehnte sich nach vorn, stützte sich mit den Ellbogen auf und strich sich über den Schnurrbart, der schwarz und borstig war wie eine Schuhbürste. Er glotzte mich dabei verzückt an, als sei ich sein lange verschollener Cousin, der nach Jahren wieder aufgetaucht war. Ich lächelte und deutete auf das Geld. Wie in Trance ergriff er die Note und betätigte die altmodische Kasse, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Endlich hielt ich mein Wechselgeld in der Hand. Blieb nur noch die Verabschiedung. Kemal kam dazu hinter dem Tresen hervor und ergriff mit seiner einen Hand die meine, während er mir mit der anderen die Schulter drückte. Ich lächelte und nickte und schlenkerte, und gerade als ich befürchtete, er werde mich gleich umarmen und abküssen, ließ er mich unvermittelt los. Nur sein glühender Blick folgte mir, als ich auf die Straße hinaustaumelte. Von wegen man sollte möglichst die kleinen Ladenbetreiber unterstützen. Dieser Morgen hatte mich soeben wieder zu einem begeisterten Anhänger von Großverteilern gemacht.
Ich setzte mich auf eine Bank vor der Unterführung, welche die Stadtkreise 4 und 5 trennte. Oben ratterten unablässig Fernverkehrszüge und S-Bahnen durch, unten roch es nach Pisse und Bier, und in den Böschungen zu beiden Seiten des Tunnels lebten die wohl fettesten Ratten der Stadt. Am späteren Vormittag, sobald die Notschlafstelle schloss, würde zudem die Clique der wenig anonymen Alkoholiker eintrudeln, um die Bänke und Treppenstufen vor dem Eingang der Unterführung zu besetzen, sich mit Bier volllaufen zu lassen, sinnlos und lautstark zu streiten und zusammen mit ihren Hunden grundsätzlich einen gehörigen Radau zu veranstalten.
Ich zündete mir eine Zigarette an, lehnte den Kopf nach hinten und starrte in den blassblauen Septemberhimmel. Ich überlegte, wie ich vorgehen sollte, um etwas über Philipp herauszufinden. Es war meine erste Befragung seit Abschluss des Fernkurses, wenn man vom gestrigen Geplänkel mit Babsi absah, und entsprechend nervös war ich. Ich beschloss, cool zu gucken und mir nichts anmerken zu lassen. Ich erhob mich, nahm einen letzten Zug und drückte die Zigarette aus. Dann überquerte ich die Straße, ging an der ehemaligen Apotheke vorbei, in der jetzt eine Galerie untergebracht war, und blieb vor dem blauen Haus stehen, das angeblich
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