Fangschuss
Sack. Und dann war er plötzlich weg.«
»Und er hat keine Anspielung gemacht, wohin er wollte?«
»Nichts, rein gar nichts hat er gesagt. Nur, dass er nochmals richtig Kohle absahnen wolle und danach Schluss sei.«
»Wozu brauchte er denn das Geld?«
Ness zögerte unmerklich. »Wir wollten neu anfangen. All das hinter uns lassen, raus aus dem Scheiß und ein normales Leben führen.«
Ich gähnte demonstrativ.
Sie funkelte mich wütend an. »Spar dir dein überhebliches Getue! Wenn du einmal da warst, wo ich war, dann ist es überhaupt nicht mehr abwegig, sich ein normales Leben zu wünschen, glaub mir. Man muss ja nicht gleich spießig werden deswegen. Aber zurück an die Uni wollten wir, studieren, ausgehen und Party machen, in die Ferien fahren, eine normale Beziehung führen, so sein wie alle andern in unserem Alter halt.«
»Von welchem Scheiß redest du?«
Sie zögerte und warf mir einen prüfenden Blick zu, dann krempelte sie entschlossen den Ärmel der Jacke hoch und streckte ihren Arm aus. Ich hatte nicht viel Zeit, mir die Einstiche in ihrer Armbeuge anzusehen, so schnell, wie sie die Male bloßgelegt hatte, so schnell bedeckte sie sie auch wieder.
»Er wollte, dass ich einen Entzug mache.«
»Er?«
»Ich auch. Natürlich. Einen Entzug machen und dann neu anfangen, wegziehen aus dem Kreis, weg von den Leuten, die uns runterziehen, weg von den negativen Energien und weit weg von den Drogen, das war unser Traum. Und mit dem Geld wäre es möglich gewesen.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und versuchte, nicht allzu betroffen dreinzugucken. Schließlich war das nicht eine Spendengala im Schweizer Fernsehen, und sie hätte das sicher überhaupt nicht cool gefunden. Ness zündete sich eine Zigarette an und stieß mit einem tiefen Seufzer den Rauch aus.
»Ich vermisse ihn entsetzlich. Ich hätte nie gedacht, dass einem ein Mensch dermaßen fehlen kann.«
»Ich werde ihn finden.«
»Versprichst du es?«
Ich nickte.
»Versprich es. Nicht so, wie Männer Dinge versprechen. Sondern richtig.«
Ich hob drei Finger in die Höhe.
Sie wandte sich enttäuscht ab.
»Du machst dich lustig über mich.«
»Das hatte ich nicht vor.«
»Dann versprich es.«
»Ich werde ihn finden. Ich verspreche es dir.«
Sie musterte mich lange. Dann lächelte sie plötzlich. »Du bist gar nicht so übel. Für einen Inder, meine ich.«
Ein weiterer sonniger Septembertag, weiße Wolken klebten wie hingetupft am tiefblauen Himmel, zwei Kinder spielten Fangen auf dem Platz vor der Longstreetbar, das Quartier hielt verlängerte Siesta. Ich pfiff das Intro zu Patience von den Roses vor mich hin und grinste schadenfroh den Autofahrern zu, die mit laufenden Motoren auf der Langstrasse Schlange standen. Eine Brasilianerin in rosa Leggins und nabelfreiem Hemdchen schleppte Mineralwasser und eine Packung Windeln nach Hause, in den Lokalen rundherum gönnte man sich je nach Veranlagung Feierabenddrinks oder Frühschoppen, und selbst die sonst so umtriebigen Dealer schienen eine Pause einzulegen. Sie standen im Schatten an Stehtischen, tranken Bier und beobachteten träge blinzelnd die Umgebung. Ich machte einen kleinen Umweg und ging zu Hause vorbei, wo ich den Amrut im Briefkasten deponierte. Es war kurz vor vier, als ich die St. Pauli Bar erreichte. Ich klingelte, doch wie immer tat sich nichts. Seufzend überprüfte ich, ob die Eingangstür verschlossen war, spähte dann nach oben und pfiff durch die Finger, doch die Kiffer-WG schien ausgeflogen zu sein. Oder vielleicht waren die Jungs auch nur zu stoned, um sich vom Tisch zu erheben und mich reinzulassen. Ich würde später wiederkommen müssen.
Die Lagerstrasse führte den Gleisen entlang Richtung Sihlpost und Bahnhof, eine schattige, beinahe düstere Adresse, kein Sonnenlicht drang hierhin, und es wurde merklich kühler. Mehrheitlich ältere Gebäude säumten den Gehsteig, doch mitten hinein hatte man einen dieser dunkelgrauen Klötze mit riesigen Fensterfronten gestellt, wie sie in Zürich in letzter Zeit beinahe epidemisch aus dem Boden schossen. Angesichts des grassierenden Wohnungsmangels boten sie unglaublich viel Wohnfläche für in der Regel unglaublich figurbewusste Leute. Wobei die Fenster hier wenig Freude machen mussten, man hatte entweder Ausblick auf die abbruchreifen Baracken neben den Gleisen oder auf die nächste Hauswand.
Murat lebte in einem heruntergekommenen Mehrfamilienhaus mit schmutzig gelber Fassade und winzigen Balkonen, die kaum Platz
Weitere Kostenlose Bücher