Fangschuss
Polizei ging von einer Abrechnung im Drogenmilieu aus. Der junge Albaner habe sich illegal in der Schweiz aufgehalten und sei bei seiner Familie, die legal im Land war, untergekommen. Seine Schwester, die den jungen Mann tot zu Hause aufgefunden habe, stehe unter Schock. Zurzeit sei sie nicht vernehmungsfähig und werde psychiatrisch behandelt. Die Eltern seien zusammengebrochen, es gehe ihnen in der Zwischenzeit aber den Umständen entsprechend passabel. Hinweise zur Täterschaft hätten sie jedoch keine geben können. Kein Wort darüber, dass jemandem ein etwa dreißigjähriger, indisch aussehender Mann aufgefallen war, der sich zur vermutlichen Tatzeit gewaltsam Zugang zum besagten Wohnhaus verschafft hatte. Gut so.
Ich ließ die Zeitung sinken. Wieder sah ich Murat am Boden liegen, mit weit aufgerissenem Mund, das lächerliche T-Shirt über dem Bauch zerfetzt und blutgetränkt. Irgendetwas in mir zog sich zusammen. Ramiz sollte Murat einschüchtern, zweifelsohne, aber ich fragte mich, ob er ihn auch getötet hatte. Plötzlich war ich nicht mehr so überzeugt davon. Ramiz war ein Hitzkopf und Draufgänger, doch der Mord war mit kaltblütiger Präzision ausgeführt worden. Ich dachte an Winklers stetig lächelnden Buddhakopf. Wie er mich mit kühler Miene aufforderte, seine Wohnung unverzüglich zu verlassen. Das würde schon eher passen, obwohl ich auch dafür nicht den Hauch eines Beweises hatte. Ich wusste, dass ich möglichst bald nochmals dorthin musste, um mit Winkler zu reden, mir blieb nicht viel anderes übrig. Philipps Spur endete bei ihm, und nur wenn ich sie von dort weiterverfolgte, konnte ich herausfinden, was mit ihm geschehen war. Schließlich hatte ich es Ness versprochen. Doch ich musste mich sehr in Acht nehmen. Vor Ramiz und seinem aufbrausenden und brutalen Temperament. Vor der Polizei, die bestimmt schon daran war, Murats Umfeld zu untersuchen, und eher früher als später auf die Treffen der Village People in Winklers Wohnung kommen würde. Und damit im ungünstigsten Fall auch auf Philipp oder mich. Und dann Winkler selbst, ihn durfte ich keinesfalls unterschätzen. Ich war mir sicher, dass er irgendetwas mit Murats Tod zu tun hatte, ihn direkt oder zumindest indirekt auf dem Gewissen hatte. Und wenn das so war, würde er wohl auch vor einem weiteren Verbrechen nicht zurückschrecken. Ich musste wirklich auf der Hut sein, wenn ich nicht als Hauptthema einer sensationslüsternen Titelstory enden wollte.
Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie die Eingangstür des Bankgebäudes aufschwang. Die Frau mit der Hochsteckfrisur trat heraus, ihr folgten drei weitere Damen, alle etwa in demselben Alter und eingekleidet von derselben Boutique. Oder vielleicht war es auch der Souvenirshop des zoologischen Gartens, wo sie einkauften. Jedenfalls war alles getigert, gestreift und gefleckt, was sie trugen. Als hätten sie gerade das Dschungelbuch in der Büroversion aufgeführt. Sie gingen schnell und mit verschränkten Armen. Diejenige, die zuvorderst lief, wandte sich um und sagte etwas, das ich wegen der Distanz nicht verstehen konnte, worauf die anderen mit überdrehtem Betriebsausflugsgewieher antworteten. Sie überquerten die Straße und verschwanden in der Filiale einer amerikanischen Kaffeekette, die sie nach rund zehn Minuten kichernd und schwatzend wieder verließen, um in die Bank zurückzukehren, jede bewaffnet mit einem Pappbecher und einer fettfleckigen Papiertüte.
Allmählich begann mir die Kälte unerbittlich unter die Kleider zu kriechen. Alles war feucht und klamm, und ich trat von einem Fuß auf den anderen. Trams fuhren in kurzen Intervallen an mir vorbei, ich sah die leeren Gesichter der Fahrgäste hinter beschlagenen Scheiben, ein Kind winkte mir zu und lachte, ich winkte zurück und fühlte mich für einen kurzen Moment nicht mehr so allein. Ich stellte mir ein warmes Bad vor, eine finnische Sauna, schließlich glühende Wüstenhitze, doch all diese Tricks nützten herzlich wenig gegen die Eiseskälte. Um zehn vor elf hielt ich es nicht mehr aus, meine Beine waren gefühllos, die Hände taub und die Nase tropfte, als hätte ich eine schwere Erkältung. Widerwillig betrat ich die Filiale der amerikanischen Kaffeekette und erstand einen horrend teuren Pappbecher mit einer nach Haselnuss oder sonst was Grauenhaftem schmeckenden Plörre, die aber immerhin siedend heiß war und mich vor dem Erfrieren rettete. Rasch begab ich mich wieder auf meinen Beobachtungsposten. Während ich
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