Fantasien der Nacht
ein, und die beiden Männer umkreisten einander aufmerksam, jeder darauf gefasst, dass sich der andere auf ihn stürzte.
Sie musste Eric beistehen, dachte sie wie durch dichten Nebel. Er hatte keinerlei Chance gegen Curtis’ neue Droge, und falls es Curtis diesmal wieder gelang, ihn zu bezwingen, würde er ihn ohne Zweifel umbringen, dessen war sie sich gewiss. Es war ihr schlichtweg nicht möglich, nur dazusitzen und abzuwarten, wer von den beiden nach diesem Kampf noch atmete. Eric durfte nicht verlieren, so einfach war das. Wenn das geschah, würden sie beide in diesem Gruselkabinett sterben. Und was wurde dann aus Jamey?
Unbeachtet von den beiden Männern huschte sie über den Boden rückwärts zu der Tür, die Curtis weit offen gelassen hatte. Als sie dort anlangte, packte sie den Griff und zog sich auf die Füße.
Schwindel überfiel sie, und sie wankte, aber mit einem verzweifelten Satz nach vorn schaffte sie es bis zum Aktenschrank und betete, dass er noch immer unverschlossen war. Sie hörte, wie etwas im Labor zu Boden krachte. Sie hörte, wie Glas zersplitterte und Metall schepperte. Sie riss an der obersten Schublade und zog sie auf.
Sie griff hinein und tastete blindlings darin herum, indes sie einen Blick über die Schulter warf, überzeugt davon, dass Curtis jede Sekunde auftauchen würde. Ihre Hand schloss sich um den glatten Walnussgriff, und langsam holte sie die Pistole hervor. Stolpernd kehrte sie zur Tür zurück. Curtis wandte ihr den Rücken zu. Er stand zwischen ihr und Eric, der an der gegenüberliegenden Wand lehnte und sie ansah. Sie spannte den Hahn mit dem Daumen.
„Das reicht, Curtis. Leg die Spritze weg oder – Curtis!“
Curtis stürzte sich auf Eric und holte weit mit der Spritze aus.
Tamaras Finger krümmte sich um den Abzug, und ehe sie selbst recht begriff, was sie tat, feuerte sie zweimal.
Curtis zuckte wie eine Marionette, an deren Fäden plötzlich gezogen wird, dann glitt er langsam zu Boden und rührte sich nicht mehr.
Eric krachte gegen die Wand, als wäre er geschlagen worden. Tamara sah das Blut, das sich auf seiner Brust ausbreitete, dann fiel auch er zu Boden.
„Eric!“, schrie sie und ließ die Waffe fallen. „Mein Gott, Eric!“
Draußen vor dem verwaisten zerfallenden Gebäude hielt Roland inne. Noch vor einer Sekunde war das Signal des Jungen so stark wie nie zuvor. Jetzt war es mit einem Mal vollständig verschwunden. War das Kind gestorben? Voller Verzweiflung ging Roland hinein, und seine Nachtsicht offenbarte ihm die kleine Gestalt, die kraftlos an der Wand lehnte.
Er kniete neben dem Jungen nieder, und ein Schnipsen seines Fingers genügte, um das Seil zu durchtrennen, das Jamey an Handgelenken und Knöcheln fesselte. Er entfernte die Augenbinde und zog behutsam das Klebeband von den blassen Lippen.
Er nahm das Kind in die Arme und verließ das Gebäude, während seine Sinne damit beschäftigt waren, festzustellen, was dem Jungen fehlte.
Das Kind war dabei, in das hinüberzugleiten, was die moderne Medizin einen Schockzustand nannte; sein Blutdruck war gefährlich niedrig, seine Haut kalt und klamm. Aufgrund einer gebrochenen Rippe, die eine seiner Lungen durchbohrt hatte, hatte er innere Blutungen. Zudem hatte er einen Bluterguss in seinem Kopf – eine Gehirnerschütterung, um genau zu sein –, doch Roland nahm nicht an, dass diese Verletzung ernst war.
Das Kind in einem Arm haltend, zog er mit dem anderen seinen Mantel aus und legte ihn rasch um den Jungen. Wärme war jetzt lebenswichtig. Und Eile war geboten. Er eilte mit dem Kind zum nächstgelegenen Krankenhaus. Während sie durch die Nacht jagten, öffnete der Junge die Augen.
„Wer bist du?“, war alles, was er sagte, und das auch nur ganz leise.
„Ich bin Roland, Kind. Mach dir keine Sorgen. Du wirst wieder gesund.“
„Erics Freund?“
Roland runzelte die Stirn. „Du bist Tamaras Jamey, nicht wahr?“
Er nickte und beruhigte sich ein bisschen, dann flogen seine Augen weit auf. „Ist sie in Ordnung?“
„Eric ist bei ihr“, erwiderte Roland.
Sie stürmten in die Notaufnahme und wurden sogleich von Krankenschwestern umringt, um Papiere auszufüllen und endlose Fragen zu beantworten. Eine der Schwestern nahm ihm den Jungen ab und legte ihn auf einen Tisch.
„Ruf meine Mom an“, sagte Jamey leise. Roland nickte und kramte in seiner Erinnerung nach dem Nachnamen des Kindes. Er entsann sich, dass Tamara den Namen „Bryant“ erwähnt hatte. Er ging zum Empfang und
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